Autor und Psychologe Gerald Mackenthun (Berlin)
Autor und Psychologe Gerald Mackenthun (Berlin)

Politisches Tagebuch

Der Verfasser dieser Zeilen hatte schon früher das Gefühl gehabt, dass die Tage, Monate und Jahre oftmals ohne Erinnerungen vorbeifließen. Es fällt schwer, Leuchtmarken der Vergangenheit und der Gegenwart festzuhalten. Oft gelingt dies nur mit erheblicher Gedächtnisarbeit. Dabei können Notizen und Aufzeichnungen immerhin ein wenig helfen. Es geht um den Versuch, flüchtige Gedanken für später festzuhalten. Der Verfasser muss dabei mit dem nicht gerade angenehmen Gefühl leben, dass alles, was er schreibt und veröffentlicht, gegen ihn verwendet werden kann.

 

Es handelt sich nicht um ein Tagebuch im engeren Sinne. Dieses müsste intimer und erzählerischer sein. Es ist eher eine Denk-Tagebuch, ein Arbeitsjournal, dessen Inhalte vielleicht später einmal in einen Aufsatz oder ein Buch übernommen werden könnten. Die Notizen erscheinen in chronologischer Folge, zusammengehalten von einem generellen Interesse am Politischen.

 

Muss man das lesen? „Unbedingt.“

seit dem 1. Januar 2019

Brief an Greta Thunberg

November 2020

 

Die schwedische Schülerin Greta Thunberg hat es innerhalb von zwei Jahren vermocht, aus ihrem Einzelprotest vor dem schwedischen Parlament eine scheinbar weltweite Jugendbewegung zu machen. Im September 2019 hielt Thunberg eine hochemotionale Rede in New York vor Delegierten der Vereinten Nationen: „Sie haben mit ihren leeren Worten meine Träume und meine Kindheit gestohlen. Menschen leiden. Menschen sterben. Das Ökosystem kollabiert! Wir befinden uns im Anfang eines Massenaussterbens, und alles, woran ihr denken könnt, sind Geld und Märchen von ewigem wirtschaftlichem Wachstum. Wie könnt ihr es wagen!"

Hier ist meine Antwort darauf.

 

Greta Thunberg bekommt Schlagzeilen auf der ganzen Welt, aber das ist kein politisches Handeln. Sie glaubt, dass alles erreichbar ist, „wenn wir es wirklich wollten“. Sie glaubt, dass die Rede vom ewigen Wirtschaftswachstum nur Opportunismus ist, um nicht Wählerstimmen zu verlieren. Das einzig sinnvolle wäre es aber, jetzt und sofort „die Notbremse zu ziehen“.

 

Wenn man nur wüsste, was sie darunter versteht. Runterfahren der Produktion, weniger Konsum, kleinere Wohnungen, weniger Reisen und in den geburtenstarken Gesellschaften Gleichberechtigung der Frauen und freier Zugang zu Verhütungsmitteln sowie das Recht auf Abtreibung. Davon ist bei Thunberg nirgends die Rede. Sie überlässt es den Politikern, Entscheidungen zu treffen. Diese Entscheidungen sind ihr aber nicht weitreichend genug. So beißt sich die Katze in den Schwanz. Thunberg und Fridays for Future fordert sofortige Maßnahmen, ohne zu sagen, welche es sein sollen. Und wenn auf die Erfolge in der Klimapolitik hingewiesen wird, ist ihnen das zu wenig.

 

Thunberg und Fridays for Future irren in mehrfacher Hinsicht. Der Planet wird nicht einer kleinen Gruppe von Menschen geopfert. Vielmehr profitieren Milliarden von höherer Bildung, besserer Gesundheit und steigendem Lebensstandard. Die dafür notwendigen Gegenstände müssen natürlich produziert werden. Thunberg hält höhere Bildung, bessere Gesundheit und hohen Lebensstandard, von dem nicht zuletzt sie selbst profitiert, für „Luxus der Wenigen“. Sie stellt die rhetorische Frage, was sie, wenn sie selbst alt sein wird, ihren Kindern und Enkeln erzählen soll, wenn diese danach fragen, warum die heutigen Lebenden „nichts unternommen haben“. Abgesehen davon, dass nicht recht klar ist, an wen sie sich wendet – die Politiker, ihre Eltern, die Menschheit insgesamt –, so kann man ihr schon heute die Antwort geben:

 

Liebe Greta,

 

Sie selbst gehen davon aus, dass Sie ihren 75. Geburtstag im Jahre 2078 feiern werden. Bitte bedenken Sie dabei, dass sie nicht in den ersten Lebensjahren gestorben sind, weil das schwedische Gesundheitssystem ausgezeichnet funktioniert und Sie geimpft wurden. Wir Erwachsene, die Sie so stark für angebliches Nichtstun kritisieren, haben Ihnen Ihre Schule, Internet, Autos, Flugzeuge und Konferenzsäle zur Verfügung gestellt. Noch bevor Sie geboren wurden, wurden in vielen westlichen und industrialisierten Ländern wirksame Maßnahmen zur Luftreinigung und zur Verbesserung der Wasserqualität eingeleitet. Bitte sagen Sie Ihren Kindern und Enkeln, dass dieser hohe Lebensstandard durch den Erfindungsreichtum und die Tatkraft von Abermillionen Menschen geschaffen wurde.

 

Ja, wir haben es gewagt, ihnen eine sicheres Heim, eine gute Schulbildung, Wärme und Elektrizität rund um die Uhr und eine Zukunft mit guten Aussichten zu schaffen! Immer weniger Menschen leiden, weil westliche Staaten sich bemühen, dass der ökonomische Aufschwung auch ärmeren Ländern zugute kommt. Ökonomische Prosperität finanziert vieles, auch Schulen, Kraftwerke und Krankenhäuser. Vielleicht klären Sie Ihre Kinder und Enkel darüber auf, dass es nur allzu menschlich ist, steigenden Wohlstand zu genießen, und dass es kaum einen gibt, der darauf freiwillig verzichtet.

 

Ja, die Generationen vor Ihnen haben der heutigen jungen Menschen die Möglichkeit gegeben, die Schönheit der Welt zu sehen, in einem Umfang, den sie früher nie gehabt haben. Nie vorher gab es eine Gesellschaft, in der es so wenig Unterdrückung gab, so wenig Erniedrigte und Beleidigte, wie bei uns. Nie vorher gab es so viele, die bereit sind, Opfer zu bringen, um den Hunger und das Elend anderer zu lindern. 

 

Wir, die wir etwas älter sind als Sie, haben Ihnen und Ihren Kindern nicht die Zukunft gestohlen, sondern vielmehr einen sicheren Weg in die Zukunft bereitgestellt, mit ausreichender Nahrung, einem hohen medizinischen Standard, guter Schulbildung für alle und einem sicheren Rechtssystem. Sie und Ihre Kinder können guter Hoffnung sein. Die industrialisierten Staaten sind dabei, langsam aber sicher fossile Brennstoffe durch regenerative Energien zu ersetzen. Das System muss nicht geändert werden. Der Wandel ist bereits eingeleitet. 

 

Mit freundlichen Grüßen 

Gerald Mackenthun (Berlin)

Corona-Pandemie: Es gibt an den Menschen mehr zu bewundern als zu verachten

1. April 2020

Schlagworte: Corona-Virus; Politik; Läuterung; die Zeit nach Corona; Überwachungsparanoia; Christian Drosten; Georgio Agamben; Slavoj Zizek; Heinz Steinmüller; Matthias Horx; Niklas Maak; Eric Gujer; Fridays for Future; Albert Camus`Roman "Die Pest" 

Ängste und Hoffnungen wechseln sich im Tagesrhythmus ab. International vernetzt arbeiten Biologen rund um die Uhr an dreierlei: an Tests zur Infektionsnachweis, der Entwicklung eines Impfstoffes und an einem Medikament. Die sozialen Einschränkungen verändern die gewohnte Lebensweise vieler Menschen  in grundsätzlicher und ungewohnter Weise.

Das Coronavirus hat inzwischen nicht nur Hunderttausende Menschen infiziert, sondern auch sämtliche Mediensparten befallen. Es gibt derzeit nicht zu wenige Informationen, sondern es sind zu viele, und es ist nicht leicht zu sagen, was  davon beachtenswert ist. Überall tummeln sich Experten der Zukunft und Matadore des Bedenkens, aber nicht alle haben unsere Aufmerksamkeit verdient. Wie inzwischen viele andere hören wir den Podcast von Christian Drosten regelmäßig. Er ist Leiter der Virologie an der Berliner Universitätsklinik Charité. Bei ihm kann man wissenschaftliches Denken lernen. Wissenschaftliches Denken ist nüchtern und rational; es kommt ohne Schuldzuweisung, Verschwörungswahn  und Hysterie aus.

Die Corona-Krise folgt bei aller Neuartigkeit einem typischen sozialpsychologischen Reaktionsmuster: auf eine Phase von Abwehr und Verharmlosung folgt die Etappe ernsthafte Auseinandersetzung und der fast einmütigen Forderung nach umfassenden Maßnahmen, die in einer weiteren Bewegung nun ihrerseits hinterfragt werden. Und tatsächlich taucht bereits die Forderung nach einer „Exit-Strategie“ auf.  Die sozialen und wirtschaftlichen Folgen werden gegen den Gesundheitseffekt abgewogen. Die Kritik wird sich wahrscheinlich verstärken. Intellektuelle Schwarzseher wie der italienische Philosoph Giorgio Agamben und der Bonner Philosoph Markus Gabriel sehen die Menschen durch staatliche Vorschriften auf „eine rein biologische Funktion“,  auf einen „Virenträger“ reduziert.

Agamben behauptet in einem Beitrag für die NZZ ("Nach Corona: Wir sind nurmehr das nackte Leben", NZZ, 18. März 2020), die Pandemie sei nur eine "angebliche", die Vorsichtsmaßnahmen völlig überzogen. Die staatlich verfügten Bewegungseinschränkungen dienten dazu, den Ausnahmezustand zum Normalzustand zu machen. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass für Agamben eine Pandemie kein ausreichender Grund sei, die Sicherheitsmaßnahmen zu erhöhen und gesundheitliche Vorsorgemaßnahmen zu verordnen.

Die sogenannte Hongkong-Grippe 1968 bis 1970 war aggressiver als Corona und kostete wohl mehr als 1 Million Menschen weltweit das Leben, darunter in Deutschland schätzungsweise 40.000. Die Hongkong-Grippe entstand aus einer Kombination von Geflügelpest-Viren mit Influenzaviren. Damals wurden keine Schulen, Betriebe und Restaurants geschlossen. Das ist ganz im Sinne Agambens.

Der Philosoph Slavoj Zizek hat auf Agamben geantwortet ("Der Mensch wird nicht mehr derselbe gewesen sein: Das ist die Lektion, die das Coronavirus für uns bereithält", NZZ, 13. März 2020). Agambens Analyse sei von einer Überwachungs-Paranoia befeuert, die überall staatliche Gängelungsmaßnahmen wittert und das Virus als politisches Konstrukt abtut. Agamben blende die Realität der Gefahr aus.

Noch aber hält sich die überwiegende Mehrheit der Menschen an die angemahnten Vorsichtsmaßnahmen. Sie haben begriffen, dass es darum geht, die Zahl der Ansteckenden niedrig zu halten, um das Gesundheitssystem nicht zu überfordern. Einige können der Entschleunigung sogar etwas Positives abgewinnen: weniger Gehetztsein, weniger Aufgaben, ein etwas ruhigeres Leben.

Einige spekulieren über die Folgen. Der Physiker und Science-Fiction-Autor Heinz Steinmüller erwartet – wie ich – nach dem Ende der Pandemie keine grundlegenden Verhaltensänderungen. Die habe es schon nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 nicht gegeben. Natürlich haben sich die Sicherheitsvorkehrungen nicht nur an Flughäfen verschärft, das tangiert aber nicht grundlegend unseren Lebensvollzug. Wie üblich werden die Notfallpläne angepasst und die Vorsorgemaßnahmen verstärkt. Vielleicht wird die Zahl der Geschäftsreisen und Kreuzfahrten ein wenig sinken. Die online-Kontakte waren unbefriedigend und haben den Wert des direkten Austausches zwischen Menschen erneut deutlich werden lassen. Die Menschen zumindest im Westen werden sich ihre Mobilität nicht nehmen lassen. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Die sogenannten sozialen Netzwerke sind nur eine zusätzliche Möglichkeit der Kontaktaufnahme. Mit einem Wort, sagt Steinmüller, wir werden nach der Krise unsere Lebensstile höchstens minimal ändern.

Unter anderem zeigt sich jetzt der Wert der Nationalstaaten. Diese können gezielter auf die Situation im eigenen Land reagieren. Es ist kein Nachteil, einen Flickenteppich auch zeitlich differenzierter Maßnahmen zu haben. Föderalismus bedeutet Unterschiedlichkeit. Wir haben nicht die Vereinigten Staaten von Europa, sondern einen Bund souveräner Staaten, die langsam, aber immer mehr Souveränitätsrechte an die Europäischen Union abgeben. Selbstverständlich wird die Dichte der Kooperation nach dieser Krise zunehmen, aber es bleibt beim Austritt Großbritanniens aus der EU. Auch der Trend zur Globalisierung ist in Köpfen und Herzen der Menschen fest verankert. Die internationale Arbeitsteilung wurde nicht erschüttert. Nur punktuell kam es zu Lieferengpässen.

Es ist von Verzicht die Rede. Auch das ist kein neues Phänomen. Einzelne haben sich immer damit beschäftigt und ihre Konsequenzen gezogen. Einigen dämmert jetzt, dass etwas weniger Konsum kein großer Verlust ist. Der Grad der Höflichkeit und der Verbindlichkeit scheint mir ein wenig angehoben zu sein. Ausgiebige Spaziergänge haben wir schon immer gemacht. Einige lesen jetzt Bücher, viele schauen jetzt vermehrt Netflix-Serien. Der Trivial-Trash in den Fernsehkanälen hat nicht abgenommen.

Der Zukunftsforscher Matthias Horx hofft auf ein Medikament schon im Sommer. Unabhängig davon, ob es so schnell geht: Schon in wenigen Wochen wird die Menschheit gelernt haben, mit Corona zu leben. Es ist ein neuer Geschwindigkeitsrekord. Vielleicht hilft das digitale Nachverfolgen von Bewegungsprofilen. Noch sträubt sich der Datenschutzbeauftragte, aber wir haben in den vergangenen Wochen gesehen, wie schnell Positionen geräumt werden, die noch kurz zuvor als unverhandelbar galten.

Was ist das Recht des Infizierten, nicht andauernd beobachtet zu werden, gegen den Tod anderer, den er eventuell auslöst? Das fragt der Journalist und Architekturkritiker Niklas Maak in einem Beitrag für die FAZ („Ein Zentrum, was ist das?“, 28 März 2020, S. 11). Diese Frage wurde bereits zu Beginn der Aids-Epidemie zu Beginn der 1980er Jahre leidenschaftlich diskutiert. „Keine Rechtfertigung für Lust“ lautete eine der Parolen der Aids-Aktivisten. Doch einer, der einen tödlichen Virus für sich und andere in sich trägt, muss sich für sein Verhalten rechtfertigen. Die Frage führt, so gestellt, immer zur Einschränkung der Freiheit. Quarantänemaßnahmen sind das klassische Mittel zur Eindämmung von Seuchen.

Horx (»Die Welt nach Corona«, Die Welt, 16. März 2020) rechnet nicht mit einem wirtschaftlichen Zusammenbruch, trotz einiger Ökonomen, die das Gespenst an die Wand malen. Die Reduktion der wirtschaftlichen Leistung um ein paar Prozent ist kein  „Zusammenbruch“, und auch das Gesundheitssystem wird nicht „zusammenbrechen“, jedenfalls nicht bei uns in Deutschland. Die Wirtschaft und das Gesundheitssystem werden sich erholen, ebenso die Börsenkurse. Auch früher kam es nie zu einem Nullpunkt. Trotz aller Krisen und Umbrüche geht unterhalb davon das Leben der Menschen weiter. Neben der globalisierten Ökonomie werden sich die lokalen Produktionen verstärkt behaupten können. Psychologisch interessant bleibt die Frage, warum bislang fast alle Zukunftsprognosen Abstiegsprognosen sind.

Einen Satz von Horx möchte ich nur zu gerne erfüllt sind: „Vielleicht werden wir uns sogar wundern, dass Trump im November abgewählt wird.“ Ich sehe auch keine lange Lebensdauer für die AfD. Diese Partei hat zu echten Zukunftsfragen nichts beizutragen. Das gilt meines Erachtens auch für Fridays for Future. Außer der Forderung, es müsse „schnell“ „etwas“ geschehen, hat diese Bewegung nichts zu bieten. Nun ist tatsächlich schnell etwas geschehen,  nämlich ein Herunterfahren der wirtschaftlichen und sozialen Aktivitäten. Satellitenaufnahmen zeigen eine drastische Reduktion von Luftschadstoffen in China (und vermutlich auch anderswo). Die Fridays for Future-Bewegung müsste sich freuen, tut sie aber nicht. Sie hält sich intuitiv zurück, denn ihre Forderung nach radikalen Maßnahmen zum Klimaschutz laufen eben auf das hinaus, was wir derzeit erleben: ein radikales Herunterfahren der ökologischen und sozialen Aktivitäten mit der Folge Kurzarbeit, Verlust von vielen Arbeitsplätze und steigender Armut für einige Bevölkerungsgruppen. Das wiederum bedeutet, dass die Umweltbewegung nicht von der Corona-Krise profitieren wird. Im Augenblick tritt der weltweite Klimaschutz hinter die Bewältigung der Virus-Herausforderung zurück. Die Umweltschutzbewegung hat in der jüngeren Vergangenheit immer beklagt, dass zu wenig auf die Wissenschaftler gehört wird. Jetzt, in der Conan-Krise, werden Virologen und Epidemiologen zu geschätzten Gesprächspartnern der Politik, deren Empfehlungen weitgehend gefolgt wird.

Sorgen bereitet mir etwas anderes: Die Erwartungen an den Staat wachsen tendenziell ins Uferlose. Politiker begehen oftmals den Fehler, unrealistische Versprechungen abzugeben. Wenn diese dann – wie mit gesundem Menschenverstand zu erwarten gewesen ist – nicht erfüllt werden, sind Wut und Aufregung groß. Zu dieser Erwartungshaltung gehört, dass der Staat alle Lebensrisiken nicht nur abfedern, sondern zu 100 Prozent kompensieren soll. Überall versprechen Präsidenten, Kanzler und Minister, es werde genügend Geld vorhanden sein, damit kein Unternehmen Konkurs geht und kein Arbeitnehmer seine Stelle verliert. Das wird nicht zu erfüllen sein. Es gibt keine Branche, die ankündigt, aus eigenem Vermögen die Krise meistern zu wollen. Alle rufen nach dem Staat, alle melden Forderungen an. „So können die Sozialdemokraten ihre Befriedigung kaum verhehlen, dass die ungeliebte Schuldenbremse vorerst Geschichte ist.“ Das schreibt der Chefredakteur der NZZ, Eric Gujer, in einem Kommentar am 27. März 2020.

Von links und rechts heißt es, die Liberalisierung und die Globalisierung habe die Krise befeuert und der freie Markt sei unfähig, diese zu meistern. Covid-19 werde als Vorwand dienen, um mit umso mehr Nachdruck Steuererhöhungen und mehr Staatsausgaben zu fordern, also die Schuldenlast wieder zu erhöhen. Dabei trifft der Erreger gerade diejenigen EU-Staaten am stärksten, die nach der Euro-Krise nicht Vorsorge getroffen und Schulden abgebaut haben. Die Maastricht-Kriterien, die die wirtschaftlich gefährlich hohe Staatsverschuldung begrenzen sollen, sind in der aktuellen Situation obsolet. Für liberale Politiker stellt diese Krise eine besondere Herausforderung dar. Sie unterstützen eingreifendes Regierungshandeln, gegen das sie sonst Sturm laufen würden.

Werden diejenigen Kräfte von links und rechts, die in den vergangenen Jahren den Staat und dessen Führungspersonal kontinuierlich madig gemacht, die das Gerede vom Staatsversagen unter die Leute gebracht und Hass auf die sogenannten Eliten propagiert haben, an Zulauf gewinnen? Die große Mehrheit der Deutschen ist mit dem Krisenmanagement der Regierung einverstanden, sie verbindet damit in erster Linie Bundeskanzlerin Merkel und den Bundesgesundheitsminister Spahn von der CDU. Zudem wird der bayerische Ministerpräsident Söder (CSU) als beherzt, entscheidungsfreudig und zupackend angesehen. Das Dauer-Bashing vom linken und rechten Rand erscheint einem Großteil der Bevölkerung in der Krise als unpassend frivol; Lösungen haben weder Linke noch AfD im Angebot. Kein Mensch kann seriös vorhersagen, wann die Ausbreitung des Coronavirus soweit eingedämmt sein wird, dass die Auflagen und Ausgangsbeschränkungen wieder gelockert werden können, so dass das öffentliche Leben, inklusive der Wirtschaft, zu einer gewissen Normalität zurückkehren kann.

Das Buch der Stunde ist „Die Pest“ von Albert Camus, veröffentlicht 1947. Eine Lehre des Buchs lautet, schrieb Otto Friedrich Bollnow in einem Essay über Camus` Pest, „dass … die unheimliche Bedrohtheit unaufhebbar zum Wesen des Lebens gehört“. „Der Alte hatte recht“, heißt im letzten Absatz der „Pest“, „die Menschen blieben sich immer gleich. Aber das war ihre Kraft und ihre Unschuld“. Der Arzt Rieux, dem der Bericht über die Pest in der Stadt Oran zugeschrieben wird, „wollte schlicht schildern, was man in den Heimsuchungen lernen kann, nämlich daß es an den Menschen mehr zu bewundern als zu verachten gibt.“ Der Leser nimmt die Gewissheit mit, dass Mut, Willenskraft und Nächstenliebe auch ein scheinbar unabwendbares Schicksal meistern können.

Psychologists for Future: Denn sie wissen nicht, was sie tun sollen

1. Oktober 2019

 

Schlagworte: Psychologists/Psychotherapists for Future; Verdrängung; Verleugnung; Apokalypse, Klimanotstand, Klimawandel, Reaktion, Rolle der Psychologie; Rolle der Psychologen/Psychotherapeuten, Therapie, psychotherapeutische Abstinenz, Jonathan Franzen, Fabian Chmielewski, Sigmund Freud, Manès Sperber

 

Am 29. Juni 2019 wandte sich eine Gruppe von Ausbildungskandidaten der Psychotherapie an offenbar alle Ausbildungsinstitute in Deutschland mit der Bitte, ihre Initiative „Psychotherapists/Psychologists for Future" zu unterstützen. Ihr Vorbild ist die Bewegung „Fridays for Future". Die Initiative will diese Bewegung unterstützen, unter anderem durch eine „Verwandlung von Angst in aktive Veränderungsprozesse“. Die Initiatoren betreiben eine eigene Web Page: https://psychologistsforfuture.org/de/ und sind international vernetzt. In der August-Ausgabe des Deutschen Ärzteblattes/Ausgabe für Psychologische Psychotherapeuten (Ausgabe PP, S. 354) veröffentlichte ich einen kurzen Kommentar mit einigen Bedenken gegen die Initiative.

 

Die Klimaerwärmung wird von den meisten als Faktum erkannt, begann ich. Der Streit dreht sich eher um die Ursachen – Kohlendioxid-Anstieg, vermehrte Methan-Emissionen, Sonnenflecken-Aktivitäten? – und um die geeigneten Gegenmaßnahmen. Alle Aktionen und Maßnahmen, die der Klimaerwärmung entgegenwirken können, sind grundsätzlich zu begrüßen und zu unterstützen. Dennoch sehe ich die Initiative der Ausbildungskandidaten aus fachlichen Gründen kritisch.

 

Ein erster Einwand richtet sich gegen die Annahme der Initiatoren, nur die Leugner einer Klimaveränderung würden jene bekannten psychischen Verhaltensweisen an den Tag legen, die Abwehr und Verdrängung genannt werden. Doch Verleugnung und Verdrängung und alle andern Abwehrmechanismen treten ubiquitär auf. Man findet sie mehr oder weniger bei allen Menschen. Es ist leicht nachzuweisen, dass auch Klima-Aktivisten nicht das gesamte Spektrum der Wirklichkeit im Auge haben. Ginge es wirklich darum, die Klimaerwärmung zu begrenzen, so müssten die fast emissionsfreien Kernkraftwerke länger laufen und neue gebaut werden, es müsste die Kohlendioxid-Verpressung in den Untergrund forciert und die Grüne Gentechnik freigegeben werden, letztere, um schneller als mit herkömmlichen Methoden hitze- und trockenresistente Pflanzen zu züchten. Die angebliche Verdrängung und Verleugnung ließe sich auch damit erklären, dass in Deutschland und Europa die Auswirkungen eine Klimaerwärmung bislang kaum spürbar sind. Der Klimawandel wird in verschiedenen Teilen der Erde unterschiedliche Effekte haben. In Deutschland wird man eher wenig davon bemerken.

 

Ein zweiter Einwand betrifft die Konsequenzen der Initiativen. Gerade Psychologen, so heißt es dort, könnten dabei helfen, kollektive Abwehr aufzudecken und zu überwinden. „Menschen zu Verhaltensänderungen in Richtung eines zunehmenden Umwelt- und Klimabewusstseins zu bewegen, ist ein psychologisches Problem“. Wenn damit gemeint ist, dass Psychotherapeuten das Thema Klimaerwärmung aktiv in die Therapien einbringen, so muss dies abgelehnt werden. Die Themen einer Therapie haben sich primär nach den Wünschen und Bedürfnissen der Patienten zu richten. Selbsteffizienz und Handlungskontrolle sind gewiss wichtige Teilziele einer Therapie. Sie dürften aber nicht unter dem Primat der aktuellen Klimadebatte stehen.

 

Aus Platzmangel konnte folgender Zusatz im PP-Heft vom August nicht abgedruckt werden: 1970 veröffentlichte der Sozialpsychologe, Philosoph und frühere Adler-Schüler Manès Sperber ein Buch mit dem Titel Alfred Adler oder Das Elend der Psychologie. Gemeint ist das „Regime des Verdachts“, das in Freuds ebenso wie in Adlers Kreis weit verbreitet war, um Abweichler von der reinen Lehre zu brandmarken. Das strahlte aus bis in die therapeutische Situation, in der der Therapeut mit seinen Deutungen scheinbar immer recht und der Analysand unrecht hat, wenn er Widerstand entwickelt. Wenn es immer der Andere ist, der verleugnet und verdränget, man selbst sich aber frei davon düngt, wächst „das furchtbare Spiel mit den psychiatrischen Diagnosen“ (Sperber). Wir sollten uns davor hüten, mit dem Verdikt der "Verdrängung" dieses stigmatisierende Spiel erneut zu spielen.

 

In der folgenden September-Ausgabe des Ärzteblattes (Ausgabe PP, S. 396ff.) wurde die Sprecherin der Bewegung „Psychlogists/Psychotherapists for Future“, Katharina van Bronswijk, interviewt.  Ihren Angaben zufolge haben sich international rund 3000 Unterstützer aus 22 Ländern der psychologischen Bewegung angeschlossen. Sie betont, dass der Klimawandel ein komplexes und abstraktes Problem sei, welches nicht unbedingt direkte Auswirkungen auf den Einzelnen habe. Deshalb seien Verhaltensveränderungen so schwer zu erreichen. Das menschliche Gehirn sei kaum in der Lage, derart komplexe und weit in die Zukunft reichende Probleme zu verarbeiten. Das Thema rufe unangenehme Gefühle hervor: Wut, Angst, Trauer, Hilflosigkeit und Ohnmacht. Derartige Gefühle werden oftmals abgewehrt bzw. verdrängt. Das stehe dem gesellschaftlichen wie individuellen Handeln in Bezug auf Klimaschutz im Weg. Überhaupt sei es allein schon technisch schwer, individuelle klimarelevante Konsequenzen zu ziehen.

 

Von der Interviewerin angesprochen auf den Einwand, dass Patienten in einer psychotherapeutischen Sitzung nicht mit dem Thema Klimawandel von Seiten des Therapeuten konfrontiert werden dürfen, bekräftigte sie das Abstinenzgebot in dem Sinne, dass der Therapeut seine eigenen Weltanschauungen oder Meinungen aus der Therapie heraus halten müsse. Wenn aber der Patient  Angst vor dem Klimawandel äußert, müsse der Therapeut professionell handeln. Als Berufsgruppe aber sei es den Therapeuten durchaus freigestellt, sich zu engagieren.

 

In der gleichen Ärzteblatt/PP-Ausgabe wurde mein Kommentar weitgehend ablehnend kommentiert. Zu den Argumenten gehörte: Therapeuten wie beispielsweise Horst-Eberhard Richter oder Ruth Cohn hätten sich in der Vergangenheit immer wieder zu gesellschaftlichen und Umwelt-Problemen geäußert. Abwehrmechanismen sollten von Psychotherapeuten öffentlich problematisiert werden, vor allem dann, wenn es sich um ein kollektives Phänomen handele. Ziel der Aktivisten sei nicht, das Thema Klimaerwärmung aktiv in die Therapie einzubringen. Die Bewegung wolle vielmehr Druck auf Entscheidungsträger ausüben. Jene, die die Gefahr wahrnehmen, sollten nicht abgewertet werden. „Immer mehr meiner Patienten“, schreibt ein Psychotherapeut, würden von sich aus die Themen Klimaerwärmung, Umweltzerstörung und Plastikverschmutzung ansprechen. Ein anderer Kommentatoren unterstellte mir Ignoranz und Zynismus.

 

„Verleugnung der Apokalypse“

 

Auch ein Beitrag im Psychotherapeuten-Journal (18. Jg., 13. September 2019, S. 253ff.) greift die Frage nach dem Umgang mit der Klimakrise auf unter der Überschrift „Die Verleugnung der Apokalypse“. Autor Fabian Chmielewski nimmt dabei die Perspektive der Existenziellen Psychotherapie ein. Auch er unterstellt eine kollektive Verdrängung als gegeben und spricht von einer „existenziellen Neurose“. Warum interessiert sich ein großer Teil der Bevölkerung nicht angemessen für die drohende Zerstörung der Welt? Immerhin gehe es um Leben und Tod, um die menschliche Existenz auf Erden. Will der Mensch nicht sein Überleben sichern? Sind Therapeuten dann nicht verpflichtet, mit ihrem psychologischen Rüstzeug aktiv einzugreifen? In der Rolle des Bürgers haben Psychologen und Psychotherapeuten das Recht, sich einzumischen.

 

Das Bestreben zu überleben ist eine treibende Kraft des Menschen als Naturwesen. Liegt nicht hier bereits die erste Antwort auf die oben gestellten Fragen? In kaum einem Landstrich  der Erde geht es klimamäßig um Leben und Tod. Von Wetterextremen sind immer nur ein kleinerer Teil der auf der Erde lebenden Menschen betroffen, die meisten bleiben verschont. Ein Hurricane an der Ostküste der USA tangiert Europa nicht im Mindesten. Das Gefühl der Apokalypse will sich einfach nicht einstellen. Drei heiße Sommer können nicht als existenzielle Krise erlebt werden. Das Leben der allermeisten erscheint nicht als gefährdet. Die Angst vor Vernichtung scheint nur in Köpfen von Aktivisten virulent zu sein, die sich in Panik hineinsteigern. Eine Bedrohung ist nicht wirklich spürbar und muss folglich auch nicht bekämpft werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob die wissenschaftlichen Erkenntnisse ernst genommen werden oder nicht. Die Vernichtung der Welt erscheint den allermeisten Menschen nicht als reale Perspektive. Kaum jemand kann erkennen, dass er direkt betroffen ist. Unter der Voraussetzung, dass derartige Empfindungen realistisch genannt werden können, erscheinen nunmehr die panikhaften Klimaaktivisten als politisch wie psychisch problematisch.

 

Sigmund Freud sah den psychischen Mechanismus der Verdrängung ausschließlich pathologisch. Neuere Autoren haben auf einen weiteren, zweiten Aspekt von Verdrängung aufmerksam gemacht: die gesunde Verdrängung. Diese besondere Verdrängung kann und soll eingesetzt werden zur Beherrschung von Problemen oder Traumata, die nicht gelöst oder nicht ungeschehen gemacht werden können. Der Patient kann lernen, bei aufsteigenden Gedanken, die individuell bedeutsam sind, dieses Aufsteigen zur Kenntnis zu nehmen und zugleich zu entscheiden, sich damit nicht zu beschäftigen. Der bewusste Entschluss zur Nichtbeschäftigung ist Konsequenz aus der Einsicht, dass man selbst oder seine Gruppe nicht in der Lage ist, das aufscheinende Problem zu lösen. Noch einmal: Verdrängung ist keineswegs ausschließlich pathologisch, sondern in seiner positiven Form ein Beitrag zur psychischen Gesundheit. Diesen Aspekt berücksichtigen weder die Psychologists for Future noch Autor Chmielewski.

 

Mit einiger Berechtigung könnte man nun umgekehrt den Klimaaktivisten und –besorgten maligne Verdrängung unterstellen. Sie ignorieren die Vergeblichkeit deutscher Anstrengungen zur Klimaneutralität im globalen Maßstab und sie halten ihre kleinen individuellen Bemühungen um Plastikvermeidung und vegane Ernährung für ausreichend, um ihr inkonsequentes Handeln zu beschönigen. Sie blenden die Konsequenzen einer wirklichen Klimaneutralität aus, welche in einem asketischen Leben und Kinderlosigkeit bestehen müssten. Würde gezielt auf den vermeintlichen Klimanotstand reagiert, wäre es das Ende des bürgerlichen Lebens, wie wir es kennen.

 

Die Jugendlichen lernen die ökologische Haltung von ihren Eltern und ihren Lehrern. Es handelt sich insofern nicht um eine autonome Bewegung. Und inhaltlich bringt sie schon gar nichts neues, nur eine Steigerung in der Schrillheit der Warnung vor dem Ende, das angeblich unmittelbar bevorsteht. „Fridays for Future“ ist stark beeinflusst von den Erwachsenen, die in Deutschland mit den Grünen und den seit Jahrzehnten andauernden Debatten und Warnungen aufgewachsen sind. Das haben sie an ihre Kinder weitergegeben. Sie haben die von den Grünen verbreiteten Ängste und Sorgen unkritisch internalisiert. Neu ist, dass sie sich über die sogenannten Sozialmedien und Apps austauschen und organisieren. Das haben ihre Eltern noch nicht getan.

 

Die demonstrierenden Schüler sind gut vernetzt und international mobil. Auslandsaufenthalte gehören zum Standard. Sie reisten dorthin nicht auf Maulesel, sondern im Flugzeug. Sie wollen Land und Leute kennen lernen, oder sie besuchen die weitläufige Verwandtschaft. Sie machen ein freiwilliges soziales Jahr in Südamerika. Man erreicht Südamerika nicht im Ruderboot. Auf Nachfrage betonen sie, dass sie das Fliegen und das Autofahren nicht verbieten wollen. Sie wollen, „dass die Politik die Bedingungen verändert“. Auf Konsum verzichten wollen sie nicht. Eine Metallgabel statt einer Plastikkabel zu verwenden, ist kein Verzicht. Verzichten müssen vermutlich jene, die sich verteuerte Flüge und verteuertes Fleisch nicht leisten können. Ist es ehrlich, von anderen Verhaltensänderungen zu verlangen, die man selbst nicht anwendet?

 

Positive Verdrängung

 

Die positive Verdrängung halte ich für eine angemessene Reaktion auf den unbestreitbaren Klimawandel. Wir sollten aufhören, schrieb der amerikanische Autor Jonathan Franzen am 8. September 2019 im New Yorker (ganz in meinem Sinne), uns vorzumachen, dass das Zwei-Grad-Ziel erreichbar wäre oder wir ihm nur nahekommen könnten. Die Verleugnung besteht seines Erachtens in dem Glauben, dass die Menschheit immer noch das Steuer herumreißen könne. Wir leben in der Gegenwart, nicht in der Zukunft, betonte er. Wenn es darum geht, zwischen der abstrakten Bedrohung durch veränderte Klimaphänomene und einem guten Frühstück zu wählen, würde zumindest er das Frühstück wählen. Diese Art von Verdrängung ist psychologisch gut nachvollziehbar. Fliegen ist zu billig, klagt die Politik in der Klimadebatte. Trotzdem tut sie alles, damit nur ja keine Fluglinie pleitegeht. Das passt nur schwer zusammen. Verdrängung ist hier eine passende emotionale Reaktion.

 

In seinen weiteren Ausführungen im Psychotherapeuten-Journal streift Chmielewski meine Befürchtung, das Engagement von Psychotherapeuten könnte in der therapeutischen Situation zur Bevormundung von Patienten führen. Pei Patienten mit Angst und Panik wird unter anderem versucht, deren Handlungsspielraum zu vergrößern, um das Gefühl von Kontrolle zurückzuhalten. Der Autor spricht in diesem Zusammenhang nicht von gemeinsam zu erarbeiteten Handlungsoptionen, sondern von der Formulierung „konkreter Handlungsanweisungen“ für Patienten (Hervorhebung von mir). Bei Patienten, die den Klimawandel ignorieren oder für nicht gegeben erachten, soll an deren übergeordnete Werte appelliert werden, zum Beispiel „die Fürsorge für zukünftige Generationen“. Zum Schluss allerdings betont auch Chmielewski, dass im Sinne des Abstinenzgebots eine „Missionierung von Patienten natürlich zu unterlassen“ sei. Kurz zusammengefasst verläuft seine Argumentationslinie folgendermaßen: Die Menschheit befindet sich auf der sinkenden Titanic, es droht nichts weniger als „die Auslöschung der Welt“ und Panik ist die passende emotionale Reaktion.

 

Ich hingegen behaupte, dass sich die Hälfte bis Dreiviertel der erwachsenen Bevölkerung weder für den konkreten Klimawandel noch für dessen Auswirkungen interessieren. Die jüngste, Mitte September veröffentlichte Allensbach-Umfrage hat beispielsweise in Deutschland ergeben, dass der Anteil der Bevölkerung, der über die Klimaerwärmung beunruhigt ist, seit 2017 von 37 auf 61 Prozent gestiegen ist. Sofern überhaupt Sensibilität für das Thema existiert, ist ein größerer Teil besorgt, weiß aber nicht, was zu tun sei, und ein kleinerer Teil – derzeit politisch vertreten nur von der Alternative für Deutschland (AfD) – hält die Aufregung für übertrieben. Die EU-Länder haben ihre Treibhausgasemissionen gegenüber 1990 um 22 Prozent reduziert, trotz anhaltendem Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum. Die Zahl der reinen Klimakatastrophenleugner dürfte sehr klein sein. Etwas größer dürfte jede Gruppe sein, die wie Jonathan Franzen den Klimawandel keineswegs leugnet, aber keine realistische Chance zu seiner Beherrschung sieht und auf kleine Schritte in technischer Innovation und persönlicher Verhaltensänderung setzt.

 

Ich zähle mich zur letztgenannten Gruppe. Es droht keine Auslöschung der Welt oder der Menschheit, ich spüre keine Angst und schon gar nicht Panik und ich sehe weder die Bereitschaft noch die Chance, das Zwei-Prozent-Ziel zu erreichen. Deutschland hat Milliarden von Euro ausgegeben, um in den vergangenen 30 Jahren den CO2-Ausstoß um etwa ein Drittel zu senken, mit nicht messbarer Auswirkung für das globale Klima. Eine „Klimaneutralität“ (ein Begriff, dessen konkrete Bedeutung in der politischen Debatte nirgends präzisiert wird) bis 2050 ließe sich meines Erachtens vielleicht zur Hälfte mit technischen Maßnahmen erzielen. Die andere Hälfte müsste mit einer Abkehr vom Massenkonsum und einer Begrenzung des Lebensstandards auf das Lebensnotwendige erzwungen werden. Der letzte Punkt ist unrealistisch, es gibt keinen Konsens darüber.

 

Fridays for Future fordern sofortige und umfassende Maßnahmen. Wenn man nur wüsste, welche! Über Geothermie und Blockheizkraftwerken hören wir seit längerem nichts mehr. Energie aus Abfall hat keine gute Presse, ebenso wenig Kohlekraftwerke, bei deren Stilllegung zugleich Hunderttausende von Wohnung die Fernwärme ausgeknipst wird. Bei den Bränden im Amazonasgebiet werden nur die Fleischesser zu Sündern gestempelt, aber nicht die zerstörerischen Monokulturen für angeblich klimarettende Biotreibstoffe. Wasserkraft ist praktisch ausgeschöpft. Atomstrom ist politisch tot, obwohl ihre Erzeugung fast CO2-frei erfolgt. Windrädern und Pumpspeicherwerken weht ein kritischer Wind entgegen. Es bleibt somit nur noch die Hoffnung auf die Sonne. Aber in unseren Breitengraden kann Solarstrom nie die Grundversorgung sichern. Die physikalischen und ökonomischen Begrenzungen sind mehr als fünfzig Jahre nach der Erfindung von Solarzellen, auch für Batterien, schon weitgehend ausgereizt.

 

Drängend zu fordern, „etwas“ müsse geschehen, reicht nicht aus. Aber die Psychologists for Future wissen ebenso wenig wie die Fridays for Future-Bewegung, was sie tun sollen. Ihr baldiges Ende ist vorhersehbar. Sie werden wegen Irrelevanz untergehen wie die Occupy- und Attac-Bewegungen.

 

Doch selbst wenn das Zwei-Grad-Ziel verfehlt wird, gibt es weiterhin starke praktische und ethische Gründe für eine Reduzierung der Kohlenstoffemissionen. Die Menschheit hat ein Interesse daran, saubere Luft zu atmen und den Verbrauch endlicher Ressourcen zu minimieren. Zugleich bin ich Psychologe genug um zu wissen, dass der Mehrheit der Menschen das Frühstück wichtiger ist als die Zukunft des Planeten.

 

 

Gerald Mackenthun ist niedergelassener Psychotherapeut in Berlin, habilitiert für das Fach Klinische Psychologie und Autor mehrere Fachbücher aus dem Bereich der dynamischen Psychologie.

Sozialismus, eine gefährliche Phrase

17. Mai 2019

 

Schlagworte: Kevin Künert, Sozialismus, Autorin Anne Applebaum; Terror, Tod und Hunger in der Ukraine; UdSSR

 

Noch immer gilt der Sozialismus vielen als eine erstrebenswerte Utopie. Eine sozialistische Gesellschaft wird als irgendwie gerechter angesehen, sowohl in Gesellschaft wie Wirtschaft. Vom Nationalsozialismus aber würde niemand so etwas sagen. Jene, die heute noch Mussolini und Franco bewundern, gelten als gefährliche Wirrköpfe. In Russland jedoch sollen nicht wenige Stalin immer noch als den größten Staatsmann aller Zeiten ansehen. Eine Bewunderung nationalsozialistischer Verbrecher würde hingegen bei uns zu Recht Empörung auslösen. Der Sozialismus aber, so heißt es bei den Verfechtern, war eine respektable Idee, die leider falsch ausgeführt wurde, aber nach wie vor gültig sei. Man schreibt ihm humane Absichten zu.

 

Die amerikanische Historikerin  Anne Applebaum hat 2019 in ihrem Buch  „Roter Hunger.

Stalins Krieg gegen die Ukraine“ die Wirklichkeit des Sozialismus in der UdSSR beschrieben. Zwischen 1917 und 1933 entfaltete die Sowjetunion ihre Logik des Hasses auf das Privateigentum und die Logik der sozialistischen Kollektivierung. Der sowjetischen Führung erschienen Bauern wie Kapitalisten, weil sie Landeigentum hatten. Nach der Logik des „Das Sein bestimmt das Bewusstsein “ würde noch der kleinste Landbesitzer zu einer kapitalistischen, d. h. konterrevolutionären Gesinnung neigen.

 

Der Name, dem man diesem Feind des Sozialismus gab, war „Kulak“. Die selbständigen Bauern sollten zum Verschwinden gebracht werden. (Daneben war der sowjetischen Führung die Ukraine als mögliche Nation ein Dorn im Auge.). Das Programm umfasste: Wer Bauer war, musste Lebensmittel abgeben, um die Arbeiter, Soldaten und Funktionäre zu versorgen. Kollektivierung und Zwangsbewirtschaftung reduzierten die Anreize zur Produktion. Wer sich widersetzte, dem drohte der Tod. Der Sozialismus trat schnell in eine Schleife von Repression, Nahrungsmittelverknappung und weiterer Repression ein. Die Unterdrückung verschärfte sich ständig: Enteignung von Land, Beschlagnahme von Getreide, Terror und Massentötung von Leuten, die nicht mitmachen wollten oder konnten. Die politisch festgesetzten Preise beförderten eine Schattenwirtschaft. Die Bauern wurden enteignet und in riesige kollektivierte Agrarbetriebe gepresst. Deren Manager hatten meist nicht die geringste Ahnung von Landwirtschaft. Ohne Land und hungernd setzte eine Landflucht ein, die gewaltsam unterbunden wurden. Der Lebensstandard sank unter die Zeit des Zaren ab.

 

Bereits 1919 wurden 12.000 Menschen hingerichtet, aber das war nur ein Vorspiel. „Kulak“ war nicht nur der wohlhabende Bauer, sondern am Ende jeder Familie, die überhaupt etwas besaß, beispielsweise eine einzige Kuh. Deren Ausrottung belief sich am Ende allein in der Ukraine auf fast 4 Millionen Tote durch Verhungern oder direkten Mord. Die Führer des Sozialismus waren unfähig zu Selbstkritik. Die Hungersnot wurde geleugnet. Als 1937 eine Volkszählung ergab, dass 8 Millionen Menschen fehlten, sollen die Volkszähler erschossen worden sein. Für Mundraub wurde die Todesstrafe eingeführt. Tausende wurden hingerichtet. Wurde eine Familie beim Essen angetroffen, konnte das zur Erschießung führen. Zuletzt herrschte nur noch Apathie. Auch westliche Journalisten und Intellektuelle beteiligten sich daran, die Katastrophe des Sozialismus zu leugnen oder schönzureden.

 

In der westlichen Welt ist unter aufgeklärten Menschen der Begriff des Sozialismus nur noch eine hohle Phrase. In Venezuela ist 2018/19 die Endphase eines weiteren sozialistischen Experiments zu beobachten. In der DDR kursierte der Witz: „Die DDR übernimmt die Sahara. Was passiert nach sechs Monaten? Der Sand wird knapp.“  So auch in Venezuela. Das ölreiche Land verstaatlichte die Mineralölindustrie und musste wenig später Treibstoffe rationieren. Die Spirale nach unten setzte ein.

 

Der Sozialismus des deutschen Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert ist so eine Phrase ohne jede analytische Grundlage. Wenn er sich die „Demokratisierung aller Lebensbereiche“ vorstellt, gilt das dann auch für die Geschworenenjustiz, die Buchproduktion, die Börse und die Höhe der Rentenzahlungen? Auf alle Fälle soll sie auf die Automobilproduktion angewendet werden: das Kollektiv entscheidet. Kollektiv und Kühnert scheinen identisch. Wenn er die Kollektivierung für eine Stufe weg vom Kapitalismus hält, fragt man sich, wie er sich denn die Erwirtschaftung der Profite vorstellt, die verteilt werden sollen? Wie stellt sich ein Sozialist die Vergesellschaftung großer Aktiengesellschaft vor, die Abschaffung der Börse, die Preisbildung in der Marktwirtschaft?

 

Sozialismus bedeutet, dass die Produktionsmittel Gemein- oder Staatseigentum sind. Dadurch kann es keinen Markt für Produktionsmittel geben, denn es gibt ja nicht mehrere Akteure, die frei miteinander handeln könnten, sondern nur den alles kontrollierenden Staat. Dadurch wird Wirtschaftsrechnung, d.h., die Berechnung von Profit und Verlust, und damit die Möglichkeit, die effizientesten Produktionsmethoden zur Herstellung von Produkten zur Befriedigung der dringendsten Bedürfnisse und Wünsche der Menschen zu ermitteln, unmöglich.

 

Und um noch einmal auf die grausame Geschichte des realen Sozialismus zurückzukommen: Wenn dieser Sozialismus von der Idee her richtig ist, aber nur falsch in Szene gesetzt wurde, an welchem Punkt würden heutige Sozialisten (einschließlich Kühnert) anders gehandelt haben? Hätten sie auf ein Feindbild verzichtet, welches in gnadenlosem und tödlichem Hass mündet? Würden Sie auf Kollektivierung verzichten? Würden sie darauf verzichten, Terror gegen bestimmte Volksgruppen anzuwenden? Würden Sie auf Zwang verzichten, auf die Todesstrafe schon für geringste Vergehen? Würden sie, einmal an die Macht gelangt, ihre Gegner und Feinde leben lassen? Würden sie sich bei offensichtlichem Versagen abwählen lassen? Würden sie bei freien Wahlen, Versammlungsfreiheit und Meinungsfreiheit nur einen Tag politisch überleben? 

 

Das alles ist sehr unwahrscheinlich, ja geradezu unmöglich. Gewalt und Unterdrückung stecken schon in den Grundidee des Sozialismus. Ihm humane Absichten zuzuschreiben, ist ein grundlegendes Missverständnis. Es sind nicht kleine, behebbare, praktische Ausführungsfehler, die beim nächsten Mal vermieden werden könnten.

 

Der ideologische Fanatismus des Sozialismus steht dem rassischen Fanatismus des Nationalsozialismus sehr nahe. Beide sind autoritär und totalitär. Grundsätzlich ist das konkrete System für das Hervorbringen von Übeln und Katastrophen allerdings nur zweitrangig. Es sind nicht Systeme, sondern primär die in ihnen lebenden Menschen, die Leiden schaffen. Das jeweilige System stellt den Rahmen bereit. Deshalb ist es so wichtig, in einer parlamentarischen und marktwirtschaftlichen Demokratie zu leben, die durch ihre Verfassung, Gesetze und Institutionen verhindert, dass Menschen mit totalitären und autoritären Ideen an die Macht kommen. Zugleich bedarf es einer ausreichenden Anzahl von Menschen, die diese Insitutionen schätzen und tragen.

 

Sozialismus kennt nur eine Wahrheit, das ist die der Partei. In diesem Kalkül kann jede Abweichung davon nur eine Todsünde sein. Kollektivierung, Diktatur, Einparteienherrschaft, gnadenlose Verfolgung der Gegner, Durchdrücken der ideologischen Ziele um jeden Preis, Privilegierung durch Parteimitgliedschaft und nicht durch Können – all das gehört zwingend zum Sozialismus. Sozialismus bleibt eine schöne Idee, solange man diese Idee nicht durchdenkt. Schaut man sie sich genauer an, zeigen sich ihre tödlichen Implikationen. Das aktuelle Sozialismusgerede ist nur heiße Luft, aber wenn es konkret werden sollte, muss jeder Demokrat diese Ideologie mit allen legalen Mitteln bekämpfen. 

6. Mai 2019

Betr.: Europa-Wahl am 26. Mai 2019; Europäische Union, Euro-Länder

Mit der europäischen Einigung hat sich eine jahrhundertelange Hoffnung auf Frieden in Europa erfüllt. Doch in der öffentlichen Wahrnehmung der EU spielen ihre vielen Erfolge eine erstaunlich geringe Rolle. Dabei verdankt selbst der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán seine wirtschaftlichen Erfolge zu einem großen Teil der EU – durch den Binnenmarkt und durch Fördermittel aus Brüssel. Es kann nicht schaden, darauf hinzuweisen, in welchem Maße die EU der Garant von Freiheit, Wohlstands und nationalen Identitäten ist – und welche persönlichen Chancen sie ihren Bürgern bietet. 

  1. Erleichterter und sicherer Handel: Brüssel schafft gleiches Recht für 28 Mitgliedstaaten. Die Angleichung entlastet die Exportwirtschaft in den EU-Ländern. Die Firmen müssen sich nicht mit 28 nationalen Regelungen herumschlagen. Der freie Austausch von Waren trägt zum Wachstum bei, welches wiederum ein Garant für ein einigermaßen stabiles Renten- und Sozialsystem ist. Ob Wirtschaftswachstum wegen des Ressourcenverbrauchs gewünscht ist, steht auf einem anderen Blatt. Selbst die Grünen setzen auf weiteres Wachstum.
  2. Kein Risiko durch Währungsschwankungen: 19 EU-Länder haben mit dem Euro dieselbe Währung. Zigtausende Unternehmen können sich ohne Währungsschwankungen über die Grenzen hinweg beliefern, weil es kein Währungsrisiko gibt. Unsicherheit über die zukünftige Entwicklung von Währungen gibt es nicht mehr. Ein solches Risiko ist nicht nur abstrakt, sondern allgegenwärtig – denn die Kurse der einzelnen Währungen werden durch Angebot und Nachfrage bestimmt. Oft ist das Währungsrisiko besonders groß, wenn zwischen dem Abschluss eines Vertrages und der Bezahlung der Waren oder Dienstleistungen einige Zeit – mitunter Jahre – dazwischen liegt. Mit einer einheitlichen Währung entfällt die Notwendigkeit, schwankende Wechselkurse durch Devisentermingeschäfte abzusichern.
  3. Keine oder wenige Zölle: Zölle sind Handelshemmnisse. Ihre Abschaffung vereinfacht den Handel, entlastet Im- und Exporteure, erhöht den Warenaustausch zwischen den Mitgliedstaaten, erhöht das Warenagebot für den Verbraucher und trägt dazu bei, Preise für Handelswaren tendenziell zu senken. Es geht nicht nur um Zölle, sondern auch um die Abwicklung. Die oft langwierigen Zollverfahren behindern besonders Hersteller frischer Produkte. Der Vertrieb von Lebensmitteln mit kurzer Haltbarkeit scheiterte früher häufig an umständlichen Zollverfahren.
  4. Wirtschaftliche Macht und ihre Kontrolle: Mit der Aufnahme von zehn neuen Staaten am 1. Mai 2004 und Bulgariens und Rumäniens am 1. Januar 2007 in die Europäische Union ist der größte einheitliche Markt der Welt entstanden, in dem über 500 Millionen Menschen leben. Mit den finanziellen Beitrittshilfen der Europäischen Union werden die Wirtschaften in den mittel- und osteuropäischen Staaten angekurbelt. Der zunehmende Export in diese Länder sorgt für ein höheres Wirtschaftswachstum in den Mitgliedstaaten der EU und sichert damit Arbeitsplätze. Die Stellung der EU im globalen Wettbewerb wird gestärkt. Zugleich wird die Marktmacht wirksam kontrolliert unter anderem durch einen EU-Wettbewerbskommissar. Mit dem Amt ist viel Macht verbunden, die ein einzelner Staat nicht aufbringen könnte. Das entschiedene Auftreten zum Beispiel gegen Google und Gasprom ist nur möglich, weil die EU 500 Millionen Menschen im Rücken hat. Etliche Probleme lassen sich inzwischen besser in Brüssel regeln als im nationalen Rahmen. Das gilt beispielsweise auch für den Datenschutz.
  5. Zwischenstaatliche Kooperation: Die tatsächlich gelebte Kooperation zwischen den EU-Staaten ist den meisten kaum bewusst. Europa ist nicht nur ein gemeinsamer Markt, sondern ebenso eine Rechtsgemeinschaft. Der Europäische Haftbefehl ermöglicht eine vereinfachte und effektivere Strafverfolgung und wirksamere Vorbeugung gegen Terrorismus. Das EU-Erbrecht beispielsweise regelt, welches nationale Recht angewandt wird, wenn Vermögen im EU-Ausland vererbt wird.
  6. Weniger Bürokratie: Die Angleichung von Standards und die Anmeldung meldepflichtiger Verfahren oder Produkte (Medikamente beispielsweise) in nur einem Land der EU mit Gültigkeit für die gesamte EU beschleunigt und vereinfacht derartige Verfahren. Doppelte und dreifache Testverfahren und Konformitätsprüfungen entfallen. Besonders kleine und mittelständische Unternehmer werden entlastet, die sich den Aufwand nicht leisten konnten, und Verbraucher können mit tendenziell sinkenden Preisen rechnen.
  7. Vereinheitlichung: Die Warenvielfalt steigt kontinuierlich, zugleich steigt die Zahl der vereinheitlichenden Regelungen, die Kompatibilität gewährleistet. Das erleichtert beispielsweise die Ersatzteilbeschaffung im europäischen Ausland. Der Wettbewerb nimmt zu, und die Preise geraten unter Druck. Der Verbraucher hat eine größere Auswahl und muss zugleich weniger für die Produkte bezahlen.
  8. Mehr Wohlstand: Der freie Handel vermehrt den Wohlstand der Gesellschaften. Wie stark der Wohlstand steigt, ist seriös nicht zu berechnen, aber dass dieser Effekt eintritt, ist unbestritten.
  9. Mehr Arbeitsplätze: Mit dem Abbau von Bürokratie gehen einige Arbeitsplätze verloren, der erleichterte Handel schafft ungleich mehr Arbeitsplätze. Wie viele es sind, lässt sich ebenfalls schwer beziffern.
  10. Arbeitnehmer-Freizügigkeit: Sie ermöglicht eine vereinfachte Niederlassung von Arbeitnehmern und Selbständigen in anderen EU-Ländern. Die gegenseitige Anerkennung von Berufsabschlüssen schreitet voran. Die Freiheit, sich in einem Land der EU seiner Wahl niederzulassen, haben sich schon Hundertausende, wenn nicht gar Millionen von Menschen genommen. Sie suchen dort ihren Aufenthalt, wo sie mehr Chancen für sich sehen (beruflich, einkommensmäßig) als in ihrer ursprünglichen Heimat. Das gilt zum Beispiel für viele Griechen und Polen. Die Arbeitnehmer-Freizügigkeit ist ein Kernbestandteil der EU. Die Brexit-Befürworter lehnen diese Freiheit ab. Die Schweizer Wahlbürger stimmten im Februar 2014 mit 50,3 Prozent gegen „Masseneinwanderung“ von EU-Bürgern.
  11. Mehr Einfluss: Die Europäische Union kann gegenüber globalen Wettbewerbern wie den USA oder China stärker auftreten und ihren Einfluss besser geltend machen. Keine Seite kann der anderen Standards diktieren. Die Frage, ob Keime in Hühnchen eher durch Antibiotika oder durch Kurzzeitchlorierung bekämpft werden sollen, ist belanglos. Der Protest gegen ein europäisch-amerikanisches Handelsabkommen TTIP speist sich aus einer irrationalen Angst vor Amerikas Stärke und einer unrealistischen Überbewertung eigener Standards. Tatsächlich zeigte sich, dass die Vorschriften für Autoabgase in den USA schärfer sind als in Europa.
  12. Reisefreiheit: Der Fall der Mauer, der Zusammenbruch des Ostblocks und das Schengener Abkommen haben Staatsgrenzen verschwinden lassen. Der gemeinsame Euro erleichtert das Reisen noch einmal, allein schon, weil Preise leichter vergleichbar sind. Währungsumtausch mit Umtauschgebühren entfallen. Der weinrote EU-Pass ist Symbol der Reisefreiheit. Er steht für die vielen Möglichkeiten, die sich den Bürgern innerhalb der EU bieten. Der schrankenlose Grenzverkehr im Schengen-Raum gehört zu den großen Errungenschaften der EU und wird von den Grenzkontrollen im Zuge der Flüchtlingsströme 2015 nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Die temporär eingeführten Grenzkontrollen führten zu kilometerlangen Staus und stundenlangem Warten.
  13. Höhere Standards: Auf allen Gebieten arbeiten die EU-Staaten zusammen, was in der Tendenz auf eine Erhöhung der Standards hinausläuft, sei es auf dem Gebiet der Umwelt oder des Rechts einschließlich der Menschenrechte. Die Probleme der EU, der Rechtsstaatlichkeit in Bulgarien, Rumänien oder Polen Gehör zu verschaffen, widersprechen diesem Prinzip nicht. Gerade die Selbstverpflichtung der Beitrittsstaaten zur Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention gibt dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und dem Europarat die Legitimation und die Kraft, Verstöße wirksam anzuprangern. Umweltverschmutzung kennt keine Grenzen, kann daher erfolgreich nur in der Zusammenarbeit aller Staaten betrieben werden. Die Übernahme der EU-Umweltvorschriften schafft gleiche Wettbewerbsgrundlagen für alle.
  14. Kultureller und wissenschaftlicher Austausch: Die Reisefreiheit bedeutet Erleichterungen für die Kooperation und den Austausch auch auf wissenschaftlichem und kulturellem Gebiet. Das europäische Förderprogramm Erasmus hat mittlerweile Millionen jungen Menschen ein Studienjahr oder ein Praktikum im EU-Ausland ermöglicht. Das Verständnis für andere Nationen und fremde Menschen wird tendenziell erhöht und Anlässe für ernsthafte Streitereien werden reduziert. Allein dieses Programm, dass auf Jungunternehmer und Auszubildende ausgeweitet wurde, widerlegt den Vorwurf, die EU sei ein „Elitenprojekt“. Die Schweiz wurde nach dem „Nein“ zur Arbeitnehmerfreizügigkeit vom Februar 2014 vom Erasmus-Programm ausgeschlossen.
  15. Frieden: Die EU war von Anfang an, neben dem wirtschaftlichen Aspekt, ein Friedensprojekt. Anders gesagt: Die wirtschaftliche Kooperation bei Stahl und Kohle als Beginn des europäischen Zusammenwachsens hatte den Zweck, den Frieden zu sichern. Die politischen Instrumente sind nach den Erfahrungen zweiter Weltkriege strikt auf friedliche und kompromissorientierte Konfliktlösung ausgelegt und haben sich im Prinzip seit siebzig Jahren bewährt. Es scheint schwer vorstellbar, dass die EU-Staaten je wieder Krieg gegeneinander führen werden. Die Nato trägt ihren Teil dazu bei. Die Balkankriege der  Neunzigerjahre und die russische Annexion der Krim zeigen, wie dünn das Eis immer noch ist. Die tagtäglichen Verhandlungen unter den EU-Partnern mögen mühsam und kompromisshaft sein, aber sie wirken wie ein permanentes Verständigungsprogramm.
  16. Gemeinsame Außenpolitik: Die Sanktionen der EU-Staaten gegen Russland wegen der Krim-Annektierung werden einmütig getragen. Natürlich darf man nicht erwarten, dass bei der jetzigen EU-Verfassung die Mitgliedsstaaten in der Diplomatie mit einer Stimme sprechen werden. Die EU-Außenpolitik wird von einer „Außenbeauftragten“ koordiniert, nicht zentral bestimmt. Die EU ist nach wie vor in erster Linie ein Klub von souveränen Staaten, „ähnlich einer chaotischen Wohngemeinschaft, die trotz allem irgendwie funktioniert“ (Albrecht Meier[1]).

Dieses Verhandeln im eigenen Interesse mit Blick auf das grundsätzlich anerkannte europäische Ganze ist politisch, kulturell und atmosphärisch etwas substantiell vollkommen anderes als die vor allem militärstrategisch und machtideologisch formierte Mächtekonkurrenz vor 1914 oder 1933. Keine europäische Regierung käme heute auf den Gedanken, im Konfliktfall mit militärischen Reaktionen zu drohen. Dass mehr als dreihundert Millionen Europäer solches für selbstverständlich nehmen, sollte an sich schon Grund für Dankbarkeit sein. Diese Kultur muss unbedingt verteidigt werden. Für die EU insgesamt geht es um historische Verantwortung. Sie muss sich gegen nationalistischen Populismus stellen, der, wenn er einmal Erfolg hat, die Fundamente der über siebzig Jahre mühsam geschaffenen Kultur des europäischen Projekts zu unterspülen droht.

 

[1]           Tagesspiegel Berlin, 6. September 2015, S. 4

1. Version März 2019, Ergänzung und Überarbeitung März 2021

Betr.: Genus, Sexus, Gender, Sprache, Moral, Verhunzung

Das grammatische Geschlecht „der, die das“, das Genus, hat mit dem biologischen Geschlecht, dem Sexus (Mann, Frau), fast nichts zu tun. Die Einteilung der deutschen Substantive in drei Klassen – Maskulinum, Feminimum und Neutrum – bezieht sich nur auf die Wörter und selten auf das, was sie inhaltlich bezeichnen. In den Relativierungen „fast“ und „selten“ liegt das Problem verborgen, das die deutsche Sprache – und nur sie – mit Genus und Sexus hat. Genus und Sexus haben im Prinzip nichts miteinander zu tun.

 

Im 17. Jahrhundert übersetzten deutsche Grammatiker Genus mit (grammatisches) Geschlecht und nannten den Artikel Geschlechtswort. Genera wurden nun männlich, weiblich und sächlich genannt. Johann Christoph Adelung, der wichtigste Grammatiker des 18. Jahrhunderts, nannte die Neutra (Mehrzahl von Neutrum) „Wörter ungewissen Geschlechts“ und „geschlechtslos“, eine Formulierung, die ganz nah beim Sexus liegt. Das öffnete der Verwechslung des grammatischen Genus mit dem biologischen Sexus Tür und Tor. Das Durcheinander entsteht dadurch, dass man beides im Deutschen mit „Geschlecht“ bezeichnet. Der Genus hat drei Geschlechter, des Sexus zwei biologische. Es gibt Sprachen ohne generisches Maskulinum. Wenn es stimmt, dass das Maskulinum die Emanzipation der Frauen hemmt, müsste die Gleichberechtigung in angelsächsischen Staaten und in der Türkei (die türkische Sprache kennt kein Maskulinum) weiter fortgeschritten sein als in Deutschland. Das ist nicht der Fall.

 

Das Genus bedeutet als grammatischer Terminus stets „Art, Sorte“. Personengruppen sind geschlechtsneutral. „Die Bürger“ umfassen Menschen sämtlicher Geschlechter und aller Altersstufen. Das Genus stimmt mit dem biologischen Geschlecht (Sexus) als Merkmal von Lebewesen eher selten überein. Viele Sprachen haben maskulin (m.) und feminin (f.) unter ihren Genera (Mehrzahl von Genus), manche davon, unter ihnen das Deutsche, zusätzlich das Neutrum (lat. ne-utrum = keines von beiden). Das heißt nicht, dass die mit maskulinen und femininen Genera bezeichneten Wörter männliche bzw. weibliche Wesenheiten oder Personen bezeichnen und das neutrale Genus nur Kinder oder unbelebte Sachen. Es gibt Hauptwörter mit dem Artikel „der“, die Frauen mitmeinen, und es gibt welche mit „die“, die Männer mitmeinen. „Der Bäcker“, „der Bürgermeister“, „der Schriftsteller“ aben nichts mit dem biologischen Geschlecht zu tun. Sie bezeichnen Mitglieder einer Funktionsgruppe.

 

Für Wörter, die etwas bezeichnen, das kein biologisches Geschlecht hat (wie Dinge oder Abstrakta), sind die deutschen Genera geschlechtsspezifisch gänzlich bedeutungslos. Auch die Unterscheidung von männlich/weiblich einerseits und neutral andererseits in belebt und unbelebt trifft nicht: siehe das Kind, das Schwein oder den maskulinen Löffel, die feminine Gabel oder das neutrale Messer. Es gibt im Deutschen maskuline Wörter, die nicht nur männliche, sondern auch weibliche Person bezeichnen, zum Beispiel der Gast, der Säugling, der Flüchtling. Es gibt feminine Wörter, die sich auch auf männliche Personen beziehen können, zum Beispiel die Lehrkraft, die Geißel, die Majestät, die Waise. Ebenso gibt es Neutra, die männliche oder weibliche Person bezeichnen, zum Beispiel das Mitglied, das Staatsoberhaupt, das Mädchen, das Kind, das Gegenüber. Die Wörter „Kunde“, „Kontoinhaber“ und „Sparer“ bezeichnen sowohl männliche als auch weibliche Personen.

 

Wie wenig Genus und Sexus miteinander zu tun haben – auch im Deutschen – zeigen weitere Beispiele: der Mann, die Person, das Mannsbild; der Blaustrumpf, die Frau, das Weib; der Engel (Engel haben in der Mythologie meist kein Geschlecht), die Gestalt, das Genie. Ferner der Bär, die Katze, das Reh; der Adler, die Fliege, das Pferd; trotz eindeutigem Sexus: das Männchen, das Weibchen (weil Diminutiva). Frohnatur, Landplage und Knallcharge sind feminin, Putzteufel, Plagegeist und Wonneproppen sind maskulin, Adlerauge, Klatschmaul und Hinkebein sind Neutra, und sie bezeichnen Personen aller denkbaren Geschlechter gleichermaßen. Es handelt sich um Konventionen, die keinen eigentlichen Sinn oder Zweck haben, sie sind weitgehend willkürlich. Ausländer, die Deutsch lernen, stöhnen darüber. Die drei Genera im Deutschen kann man lernen, aber sie stellen eine unnötige Komplikation der Sprache dar, weil ohne Zugewinn an Präzision. Die englischsprechenden Länder beispielsweise haben es mit ihrem „the“ in dieser Hinsicht einfacher. Dafür haben sie andere grammatikalische Schrullen, die für Außenstehende schwer zu verstehen sind. Da die englische Sprache kaum unterschiedliche Endungen für die Geschlechter kennt, sind die meisten Bezeichnungen genderneutral, so zum Beispiel „teacher“ für Lehrer und Lehrerin. Will man bei einem bestimmten Thema deutlich machen, dass es sich um einen Mann oder eine Frau handelt, muss man „male“ oder „female“ davorsetzen.

 

Die Gegner des generischen Maskulinums verkennen dessen asexuelle Natur. Genus ist eine rein grammatikalische Kategorie, Sexus eine biologische. Die Wurst hat nichts Weibliches, der Käse nichts Männliches an sich.[1] Ebenso der Mund, die Nase, das Kinn. Über einen Sexus verfügen diese Worte nicht – einer Mündin  oder einer Kinnin werden wir hoffentlich in der deutschen Sprache niemals begegnen. Es gibt eine gewisse Übereinstimmung von Genus und biologischem Geschlecht, jedoch nicht durchgängig: der Mann, der Bruder, die Frau, die Tante, das Kind, das Mädchen. Aber: der Lügner, die Geisel, die Wache, die Hilfskraft, das Mitglied, das Opfer – alles geschlechtsneutrale Personenbezeichnungen, die Männer und Frauen gleichermaßen meinen.

 

Es gibt sehr viele Belege für diese Ansicht: Alle Teilnehmer der Konferenz hörten aufmerksam zu. Österreich zählt über 8 Millionen Einwohner. Die beiden letzten Tänzer auf der Bühne waren Sabine und Peter. Frauen sind meist die besseren Zuhörer. Teilnehmer, Einwohner, Tänzer, Zuhörer – alle Ausdrücke stehen im Femininum und bezeichnen Männer und Frauen gleichermaßen. Meistens fällt uns das gar nicht auf. Und den letzten Satz hätte man mit einer Paarform gar nicht bilden können: Frauen sind die besseren Zuhörerinnen und Zuhörer. Oder, wie ich es kürzlich las: „Nur ein Drittel aller Polizistinnen und Polizisten sind weiblich“. Nur ein Drittel der Polizistinnen sind weiblich? Eine bedenkliche Aussage.

 

Es gibt ein paar Sonderfälle. Mit „generischem Maskulinum“ (bzw. maskulinem Genus) bezeichnet man den Sachverhalt, dass maskuline Personenbezeichnungen auf -er (wie Förster, Pfarrer) nicht in erster Line sexusmarkiert sind. Sie bezeichnen Personengruppen und -einheiten unabhängig von deren Sexus. Schwierig wird es bei Rollenbezeichnungen: So sind „die Studenten“ gleichzeitig die allgemeine Bezeichnung für beide Geschlechter, aber auch die spezielle Form für männliche Studenten. Das Maskulinum ist in solchen Fällen sexusneutral. Die Studentinnen bezeichnen hingegen eindeutig nur weibliche Personen. Bei „Studenten“ sind Weiblein und Männlein inkludiert, bei „Studentinnen“ sind nur „Menschen mit Vagina“ gemeint. Das Femininum markiert. Es wird durch die Silbe -in und ein paar Nebenformen wie -esse (Politesse), -isse (Diakonisse) oder -euse (Diseuse) extra bezeichnet. Diese Endungen bezeichnen den weiblichen Sexus als etwas Zusätzliches, Besonderes.

 

Wenn es nach den Sprachpflegern der Stadtverwaltungen in Hannover und Lübeck geht, ist eine Institution wie die Kirche nicht mehr als „Arbeitgeber“, sondern als „Arbeitgeberin“ zu bezeichnen und eine Stadt nicht mehr „Herausgeber“, sondern als „Herausgeberin“ eines Leitfadens für sogenannte gendersensible Sprache. Wörtlich heißt es darin: „Institutionen, die einen weiblichen Artikel haben, sollten grammatikalisch korrekt behandelt werden.“ „Die Institution“ hat ein weibliches Generum. Also in Zukunft „die Institutionin“? Aber das den weiblichen Sexus anzeigende Suffix „-in“ lässt sich nur auf belebte Nomen anwenden, also nicht „die Wäscheklammerin“ oder „die Bratpfannin“. Institutionen sind keine belebten Entitäten.

 

Der teilweise vehemente Einsatz für eine veränderte Sprachnorm speist sich vor allem aus dem Trugschluss, in der deutschen Sprache habe sich mit dem Genus eine sprachliche Ungleichheit eingeschlichen, die gleichbedeutend sei mit sozialer Ungleichheit. Soziale Ungleichheit soll durch sprachliche Differenzierung eliminieren zu wollen. Sind diese experimentellen Sonderformen geeignet, das uralte Unrecht an den Frauen sicht- und hörbar zu machen? Bekennen sich die Frauen in diesen Sonderzeichen wieder? Was ist mit den neu entdeckten 36 weiteren Geschlechtern, von denen wir bisher nicht viel wissen? Wird die gesellschaftliche Stellung der Frauen durch einen umständlichen Sprech- und Schreibakt verbessern?

 

Noch ist nicht auszumachen, ob sich die Verdoppelung in der Gruppenbeschreibung („Bürgerinnen und Bürger“, Ministerpräsidenten und Ministerpräsidentinnen“), das große Binnen-I, das Gendersternchen, der Doppelpunkt oder der Unterstrich durchsetzen wird. Alle Formen sind gewöhnungsbedürftig. Nur ihre konsequente Anwendung hat Sinn. Bei der Wiederholung einer solchen Formel zum dritten oder fünften Mal stellt sich aber bei Rezipienten ein Gefühl von Redundanz und Ungeduld ein.

 

Die Argumentationslinie der Befürworter einer Genderisierung der Sprache verläuft folgendermaßen: 1. Die Frauen werden in der Gesellschaft nach wie vor massiv benachteiligt. 2. Im Genus verschwinden die Frauen und sind nicht mitgemeint. 3. Um diese Benachteiligung aufzuheben, müssen Frauen in der Sprache „sichtbar“ gemacht und jeweils explizit benannt werden. 4. Nur so wird die Unterdrückung der Frau sichtbar. 5. Die gendergerechte Sprache ist in der Lage, die Hintansetzung von Frauen zu beenden.

 

Schon die erste Prämisse ist falsch. Es gibt meines Erachtens in unserer Gesellschaft keine strukturelle Benachteiligung von Frauen mehr. Mit der Hinfälligkeit der ersten Thesen gelten auch alle weiteren Thesen nicht mehr. Die zweite These ist falsch, weil das generische Maskulinum eine Gruppe von Menschen beiderlei Geschlechts bezeichnet, nicht nur Männer in einer Gruppe. Und das generische Femininum „die Gruppe“ bezeichnet ebenso nicht nur Frauen, sondern Menschen aller Geschlechter. Wer Genus mit Sexus verwechselt, fügt der Sprache Schaden zu. Einen empirischen Beleg für die dritte These gibt es noch nicht; auch die vierte und fünfte These sind fragwürdig und kaum beweisbar. Das generische Maskulinum – also das sich auf alle natürlichen Geschlechter beziehende Maskulinum – ist im Sprachgebrauch üblich, wird gesellschaftlich akzeptiert und stellt keine Geringschätzung gegenüber den Frauen dar. Nicht zuletzt das Grundgesetz selber verwendet das generische Maskulinum.

 

Es ist kulturwissenschaftlich legitim, das Zusammenwirken von genetischen, neuronalen und soziokulturellen Prozessen, sowie Geschlechterstereotypen und deren sprachliche Gestalt zu untersuchen. Anders der Vorgang des Strebens nach politischer Korrektheit. Dabei geht es im Wesentlichen um Sprachliches: Gleichheit und Gerechtigkeit sollen dadurch erreicht werden, dass an Wortschatz und Grammatik herumreformiert wird, indem Gebote und Verbote ausgesprochen werden. Das Gender Mainstreaming hat den Charakter einer säkularen Religion angenommen. Die Sprache soll eine moralische Anstalt werden. Die Verbissenheit, mit der um eine angeblich gerechte Sprache gekämpft wird, deutet auf einen Kulturkampf hin. Es geht um Macht und den Anspruch auf Meinungsführerschaft. Es wird mit Kanonen auf Spatzen geschossen: Wer nicht mitmacht oder gar dagegen ist, dem wird schnell Antifeminismus, Rassismus, Kolonialismus und Faschismus unterstellt. Mit der Eliminierung  des Wortes „Neger“ aus dem Sprachgebrauch wurde die Stellung der schwarzen in den USA nicht verbessert. Verbesserung brachten konkrete Prozesse, Proteste und Gesetzesänderungen. Im Zuge dieser sozialen Kämpfe bildeten sich auch neue Wörterbezeichnungen.

 

Woher kommt der aktuelle, moralisch durchtränkte Sprach-Reformeifer? „Ich glaube, der Grund, weshalb die Genderei so wenig Widerstand erfährt, ist das schlechte Gewissen der Männer. Frauen wurden jahrhundertelang benachteiligt, daran gibt es keinen Zweifel. Deshalb laufen feministische Splittergruppen, und wenn sie noch so abwegige Forderungen erheben, überall durch offene Türen. Keiner wagt, etwas zu sagen, aus Angst, als Ewiggestriger und Frauenfeind dazustehen.“ Das sagte Walter Krämer am 8. März 2019 in einem Interview mit der NZZ. Der Dortmunder Statistikprofessor Krämer ist Initiator einer Petition mit dem Titel „Schluss mit dem Gender-Unfug!“

 

Was wie ein Schildbürgerstreich aussieht, ist den Verfechtern der Gender-Sprache bitterer Ernst. Ausgerechnet jene Kreise, die sonst nicht genug von Toleranz, Diversität und Inklusion sprechen können, versuchen auf diese Weise den politischen Gegner kleinzukriegen. Es geht nicht um eine wissenschaftliche Auseinandersetzung. Es soll nicht nur das Schreiben vorgegeben werden, sondern auch das Denken. Es geht mehr als um einen lästigen Sprachformalismus. Das hat auch den Staat und seine Organe erfasst. Doch diese sind zur weltanschaulichen Neutralität verpflichtet. Keine Institution sollte vorschreiben dürfen, in welcher grammatikalischen Form man sich äußert. Es ist nicht ersichtlich, inwiefern solche Vorgaben für das Funktionieren von Parlamenten und Behörden von Bedeutung sein sollen.

 

Ich gehöre in meinem Land zu einer Minderheit, die behauptet, dass sich in den vergangenen Jahrzehnten die Stellung der Frauen überall auf der Welt verbessert hat, auch und vor allem in Deutschland. Sie sind nicht beständig männlichen Gewalttaten bis hin zum Mord ausgesetzt, sondern sie erfahren viel Liebe und Zuwendung. Ihre Hausarbeit und ihre Rolle bei der Erziehung der Kinder werden zwar nicht direkt bezahlt (von wem auch?), aber in einer ehelichen Gemeinschaft sollte es selbstverständlich sein, dass die Einkommen gerecht verteilt werden. Die angeblich unterschiedliche Bezahlung von Mann und Frau im Berufsleben wird von interessierter Seite gerne hochgespielt, beträgt aber bei korrekter Berechnung nur einige wenige Prozent. Alle Tarifverträge sorgen für gleiche Bezahlung. Der Anspruch auf Gleichberechtigung ist in allen modernen Staaten weitgehend verwirklicht. Ich sehe deshalb keine Veranlassung, die sogenannte gendergerechte Sprache anzuwenden, ganz abgesehen davon, dass sie mein literarisches Stilempfinden beleidigt.

 

Ich glaube nicht an die segensbringende Wirkung von Gendersprache, Quotenregelungen und Gleichstellungsbüros. Ich halte es nicht für günstig, die Frauen gesellschaftlich einseitig zu begünstigen. Bei gleicher Qualifikation werden Frauen bevorzugt eingestellt? Warum eigentlich? Dann doch lieber würfeln. Brauchen Frauen diese positive Diskriminierung überhaupt? Hält Frauenförderung die Frauen nicht in Unmündigkeit? Passen Frauenquoten zum Geist des Rechtsstaats und der Gleichheit? Ist nicht der Grundsatz, dass vor dem Gesetz alle gleich sind, eine Errungenschaft aufgeklärter Gesellschaften? Würden Frauen etwas merken, wenn alle Gleichstellungsbüros auf einmal geschlossen würden?

 

Wie würde unsere Gesellschaft aussehen, wenn a) alle Gleichstellungsbeauftragten abgeschafft werden, b) die Posten der Gleichstellungsbeauftragten paritätisch besetzt werden („bei gleiche Qualifikation wird der männliche Bewerber bevorzugt“) oder c) den 2000 Frauenbeauftragten ein System von 2000 Männerbeauftragten an die Seite gestellt wird? Wird eine „Diskriminierung“ (also Unterscheidung) durch Gleichstellungbüros nicht erst recht befördert? Wie viele Frauen fühlen sich durch das Wort „Fußgängerüberweg“ „ausgetilgt“ und „nicht gesehen“? Handelt es sich eventuell um ein Spezialproblemchen leicht erregbarer Feministen, befeuert durch ein unkritisches Feuilleton? Und was die Gendersprache angeht: Kann bewiesen werden, dass Frauen durch Wörter wie „Fußgängerstreifen“ wirklich „systematisch diskriminiert“ werden? Was wäre durch die verbindliche Nutzung des Wortes „Zebrastreifen“ gewonnen? (Claudia Wirz, „Wer fragt, gewinnt: Auswege aus endlosen Gender-Diskussionen, NZZ, 13. August 2020).

 

Die Sprachwissenschaftlerin Ewa Trutkowski wagt die Prognose: „Zu glauben, durch eine veränderte Sprachnorm politische Versäumnisse heilen und soziale Realitäten umstülpen zu können, ist eine Illusion. ... Ob (dynamischer) Unterstrich, Genderstern, Binnen-I, Doppelpunkt, Beidnennung oder generisches Femininum – nichts davon wird sich in der Sprachgemeinschaft durchsetzen, denn nicht die Schaffung, sondern die Vermeidung unnötiger Komplexität ist eine der Haupttriebfedern für Sprachwandel.“ („Vom Gendern zu politischen Rändern“, Neue Zürcher Zeitung, 22. Juli 2020). Am übelsten stößt Trutkowski die moralische Aufladung auf. Es sei deprimierend zu beobachten, wie eigentlich wissenschaftliche Debatten durch moralisierende und politisieren Unterstellungen geistig auf Zwergenniveau schrumpfen. „Wer gendert, ist lieb und links. Wer es nicht tut – und auch nicht tun will –, böse und rechts.“ Das passt zu der allgemeinen Tendenz, Wissen durch Haltung und Erkenntnis durch Betroffenheit zu ersetzen.

 

„Der Versuch, die Lage der Frauen durch die Einführung einer absurden Nachsilbe zu verbessern, die den Sprachen- und Schönheitssinn beleidigt, wird sich am Ende wohl doch als eine vom Akademiker-Sessel und vom Talkshow-Stuhl geführte Revolte erweisen.“ (Peter Schneider: „Mehr Geschlecht als Recht“, Tagesspiegel Berlin, 30. März 2021, S. 23)

 

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[1] Dr. Tomas Kubelik: Wie Gendern unsere Sprache verhunzt. Youtube https://www.youtube.com/watch?v=Ri-kVYDTEAk (angeklickt 17. März 2019).

30. Januar 2019

Staaten und Nationen werden auch weiterhin gebraucht

Stichworte: Nation, Nationalismus, Chauvinismus, Patriotismus, Deutschland, Vergangenheit, Europäische Union, Zukunft

 

„Nation“ ist ein unbestimmter Begriff. im Mittelalter wurde er mit „Völkerschaft“, „Landsmannschaft“ oder „Abstammung“ in Verbindung gebracht. „Nation“ war noch nicht bestimmt durch eine staatliche Organisation, sondern durch Herkunft, geographische Lage, Sprache, Sitten und Gebräuche (nie aber durch ein Moment allein) miteinander verbunden (HWPh, Stichwort „Nation, Nationalismus, Nationalität“; Bd. 6, 407).

 

Erst seit Mitte des 18. Jahrhunderts erhält „Nation“ mehr und mehr eine rein politische Bedeutung. Die Nation befindet souverän über ihre politische Verfassung und ist zur Erhaltung ihrer selbst und ihrer Mitglieder berechtigt und verpflichtet. Nationen werden repräsentiert durch Parlamente. Sie sollen alle Bürger vertreten. Bürger übertragen ihren Repräsentanten legislative Befugnisse. Die Macht der Legislative ist an die Existenz einer Nation gebunden. Wie sollte sie sonst ihre Aufgaben definieren und umgrenzen?

 

Die Stände-Versammlung der französischen Revolution war ausdrücklich eine „Nationalversammlung“. Der Begriff Nation wird seitdem für viele sprachliche Neubildungen verwendet: Nationalgarde, nationale Erziehung, Nationalcharakter, Nationalliteratur, Nationaltheater usw. Im Verfassungsentwurf für Korsika beispielsweise wird ein „nationaler Charakter“ behauptet und beschworen. Für diese wert- und gefühlsbezogene Haltung prägte Johann Gottfried Herder den Ausdruck Nationalismus. Auf die Frage „Was ist [eine] Nation?“ antwortete er:

„Ein großer, ungejäteter Garten voll Kraut und Unkraut. Wer wollte sich dieses Sammelplatzes von Torheiten und Fehlern so wie von Vortrefflichkeiten und Tugenden ohne Unterscheidung annehmen und...gegen andre Nationen den Speer brechen?... Offenbar ist die Anlage der Natur, daß wie Ein Mensch, so auch Ein Geschlecht, also auch Ein Volk von und mit dem anderen lerne...bis alle endlich die schwere Lektion gefaßt haben: kein Volk ist ein von Gott einzig auserwähltes Volk der Erde; die Wahrheit müsse von allen gesucht, der Garten des gemeinen Besten von allen gebauet werden.“ (Wikipedia, „Herder“, 30. Januar 2019)

 

Auch in Deutschland erhält der Begriff nach und nach einen neuen Sinn. Gefordert wird jetzt das Bekenntnis zur eigenen Nation, zu den Interessen des Vaterlandes, das Selbstbewussstsein dieser Nation als eines Ganzen, weshalb die Begriffe Nation und Patriotismus jetzt zusammengehören. Eine «national-Denkungs-Art, eine allgemeine Vaterlands-Liebe» vermisste 1765  C. F. von Moser bei den Deutschen und forderte diese auf, sich „in den Dienst des Staats“ und des „allgemeinen Besten“ zu stellen (HWPh, Bd. 6, 409).

 

Die „nationale Denkungsart“ enthält den Keim eines feindseligen Vorurteils gegenüber anderen Nationen. Herder sah wie oben zitiert die Gefahr von nationalen Torheiten und Fehlern, aber ebenso von nationalen Vortrefflichkeit und Tugenden. Damit ist die grundsätzliche Ambivalenz von „Nation“ und Patriotismus angesprochen.

 

Das Verhältnis von Volk, Nation und Staat ist unbestimmt, doch kann man verallgemeinernd sagen, dass ein Volk zur Nation durch staatliche Institutionen wird. So der preußische Staatsmann und Philosoph Friedrich Ancillon: „Wenn der Staat vorhanden ist, hebt die Nation an. Bis dahin giebt es Völkerschaften“ (zit. in ebd., 410). Die Nation erhält ihre Festigkeit durch die Vaterlandsliebe. Schlegel hielt die gemeinsame Sprache und die gemeinschaftliche Abstammung für das festeste und dauerhafteste Band. Der nächste Schritt zum „nationalen Grundcharakter“ liegt da nicht fern, eine eigentümlich Einheit von Gefühl und Bewusstsein. Sprache, Sitte, Glaube und gemeinsames Schicksal können sich freilich unterschiedlich auswirken, mal verbindend, mal hinderlich. „Das Gelingen ist eine Machtfrage«, meinte Fröbel (in Theorie der Politik (1861–64), HWPh Bd. 6, 414). John Stuart Mill nannte die „Identität des politischen Lebens“, die nationale Geschichte und die sich daraus ergebenden gemeinsamen Erinnerungen für die Ausbildung einer Nation ausschlaggebend. Nation ist demnach, so Max Weber, ein Begriff, dem alle „empirischen Qualitäten“ abgehen hat und der nur besagt, „daß gewissen Menschengruppen ein spezifisches Solidaritätsempfinden anderen gegenüber zuzumuten sei, [er] gehört also der Wertsphäre an“ (ebd., 411).

 

Der überbordende und wertüberhöhte Nationalismus wurde nach dem Ersten Weltkrieg teilweise scharf ablehnend (z.B. bei den Anarchisten), teilweise zustimmend (so bei Ernst Jünger)  als „Religion des Diesseits“ angesehen.  Ihren Höhepunkt erreichte die Fetischisierung der Nation in der Propaganda des Nationalsozialismus. Sie definierte die Zugehörigkeit zur Nation über das so prekäre wie fatale Kriterium der „Rasse“. Und sie verknüpfte das Bewusstsein, einem gemeinsamen Staat anzugehören, mit der Vorstellung, der eigene Staat sei allen anderen Staaten überlegen. Das diskreditierte den Begriff der Nation, besonders in Deutschland. Nation und Chauvinismus werden seitdem in eins gesetzt. Nüchtern betrachtet ist der Chauvinismus ein pervertierter Nationalismus und Patriotismus. Nationalismus wurde aber auch abgewertet von Kommunisten, die die internationalen Klasseninteressen des Proletariats bedroht sahen durch einen Kosmopolitismus der aufstrebenden Bourgeoise, wobei ihnen Kosmopolitismus nur ein ideologischer Ausdruck für einen bürgerlichen Nationalismus erschien.

 

Nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus sind „Nation“ und Patriotismus weitgehend tabuisierte und bekämpfte Begriffe geworden. Die beinahe schon uferlose Beschäftigung mit dem Rechtsextremismus wäre ohne diesen Hintergrund nicht denkbar. Linke, Grüne und SPD wollen sich im Kampf gegen den Rechtsextremismus (oder was sie dafür halten) von niemandem übertreffen lassen. So musste Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen im November 2018 seinen Stuhl wegen einer missverständlichen Äußerung räumen. Noch einmal konnte die Linke den Antifaschismus früherer Tage mobilisieren und vor den Gefahren des Nationalismus warnen.

 

Nur die Last der NS-Geschichte erklärt, weshalb die gesamte Gesellschaft geradezu inbrünstig vermeintliche oder tatsächliche Erscheinungsformen des Radikalismus seziert (siehe NZZ, „Deutschland und die Last seiner Mythen“, 9./10. Dezember 2000, S. 7). Die direkt oder indirekt um den Nationalsozialismus kreisenden Diskussionen bilden ein Ritual. Meist fehlten von Anfang an die notwendigen intellektuellen und politischen Sicherungen. Niemand will sich mangelnde Wachsamkeit vorhalten lassen.

 

War der Nationalsozialismus Bestandteil einer langen Traditionslinie oder bloß Betriebsunfall unter ungünstigen Umständen? Die erste Lesart hat sich in Deutschland weitgehend durchgesetzt. Die Diskussion über den Rechtsradikalismus führt zur Auseinandersetzung mit dem Nationalbegriff. Wenn der Nationalstaat nicht schon an sich als chauvinistisch angesehen wird, dann gilt er zumindest als rückwärtsgewandt, als unsolidarisch und in Anbetracht globaler Herausforderungen bestenfalls als ineffektiv. Die Dekonstruktion der Nation soll den Weg bahnen für eine friedliche Zukunft, in der, wie von John Lennon besungen, nicht länger Staaten dem Traum globaler Brüderlichkeit im Wege stehen (John Lennon, „Imagine“, 1971).

 

Auf Nationalität konnte man dann doch nicht ganz verzichten. Ehemalige Kolonialvölker gebrauchten den Begriff zur Unabhängigkeit und zur Nationenbildung (HWPh, Bd. 6, 411). Es wurde geschichtlich unterscheiden zwischen einem guten und einem schlechten Nationalismus, wobei der eigene immer der gute und richtige war – ein Ergebnis meist von Indoktrination.

 

Akzeptables Nationalbewusstsein kann als Verantwortung für das Land, in dem man lebt und das man mit anderen teilt, verstanden werden. Nation, so hatte es der französische Philosoph Ernest Renan 1882 in einer berühmten Rede an der Sorbonne formuliert, sei ein geistiges Prinzip, das von zwei Pfeilern getragen werde: von einem geistigen Erbe, das als gemeinsamer Besitz anerkannt werde, und vom Willen einer Gesellschaft, gemeinsam in die Zukunft zu gehen. Besonders die Vereinigten Staaten sind eine Nation, die sich weniger über die gemeinsame Vergangenheit ihrer Bürger definierte, sondern über ihr Bekenntnis zu einer gemeinsamen Zukunft. Der frühere US-Präsident Barack Obama begründete seine politische Laufbahn mit einem fulminanten Bekenntnis zur einigenden Kraft der amerikanischen Nation bei gleichzeitigem Angebot einer großzügigen Zusammenarbeit mit allen Nationen guten Willens.

 

Die Idee der Nation zielt auf Zugehörigkeit ab, und zwar als Gleiche unter Gleichen. Das bringt neue Probleme mit sich. Sind Nationen Gebilde, die grundsätzlich allen offenstehen? Die USA nahmen gut 300 Jahre lang großzügig Zuwanderer auf. Diese Freizügigkeit wird bei anhaltender Masseneinwanderung in Frage gestellt. Wenn Nationen zukunftsorientierte „Willensnationen“ sind, müssen und dürfen sie Interessen haben. Diese können mit den Interessen anderer Nationen kollidieren, insbesondere dann, wenn diese Interessen expansionistisch sind.

 

Supranationale und regionale Zusammenschlüsse könnten und müssten an die Stelle der Staaten treten, um ihre chauvinistische Seite zu neutralisieren – im besten Falle als Weltgesellschaft oder zumindest als Vereinigte Staaten von Europa. Wenn über die europäische Idee debattiert wird, steht die Vorstellung im Raum, die Vereinigten Staaten von Europa seien ein zwingender Entwicklungsschritt, bis hin zur Auflösung der Nationen in einem vereinten europäischen Gesamtstaat. Zur Bewältigung der Zukunft müsse Europa zu einer zunehmend engeren und integrierenderen Politik finden.

 

Diese Haltung „verkennt das, was den Kontinent im Kern ausmacht: Europas Identität liegt nicht in grossräumiger Einheitlichkeit, sondern in der Vielfalt regionaler Kulturen, die sich auf engem Raum entwickelt haben. Europäer definieren sich noch immer in erster Linie als Deutsche, Franzosen oder Engländer, auch wenn Europa durchaus einen Aspekt ihres Selbstverständnisses spiegelt.“ Das schrieb der Schweizer Journalist Thomas Ribi 2019 in einem Essay für die Neue Zürcher Zeitung („Wir müssen die Nationen verteidigen – auch gegen ihre Anhänger“, NZZ, 23. Januar 2019). Die Gefahr liege in der Größe Europas mit Entscheidungsstrukturen, die die Rückbindung an die jeweilige Bevölkerung verliert. „Überschaubare Verhältnisse“ würden weiter gebraucht werden.

 

Bezeichnend für die Debatte in Deutschland ist die enge Verschränkung von Nation und Nationalismus bis hin zur Meinung, dass alles Übel von den Nationalstaaten ausgehe, insbesondere Kriege. Besteht denn wirklich ein zwingender Zusammenhang zwischen Nationalstaat und Chauvinismus? Historisch gesehen gab es Kriege auch vor einer Staaten- und Nationenbildung. Das vornationale Europa der regionalen Feudalstädte und -staaten war kein Hort des Friedens.

 

Der antinationale und antistaatliche Affekt in Deutschland übersieht, dass anderswo die Bestrebungen zur nationalstaatlichen Selbstüberwindung gering sind. Zwar ist der totale Krieg des Nationalsozialismus ohne totalen Staat nicht denkbar. „Doch zur Wahrheit gehört auch, dass die Befreiung des Kontinents nur durch die Mobilisierung der Nationen gelang. ... Zum Sieg über den Nationalsozialismus trug dabei wesentlich auch die Rote Armee der Sowjetunion bei, wo dem Krieg gegen Nazi-Deutschland nicht zufällig das Attribut ‚vaterländisch’ verliehen wurde.“ Darauf wies der Leiter des Referat Internationale Politikanalyse der Friedrich-Ebert-Stiftung und Herausgeber der Zeitschrift "Internationale Politik und Gesellschaft", Michael Bröning, in einem längeren Essay für die Frankfurter Allgemeine Zeitung hin (6. August 2018, S. 7). „Vor diesem Hintergrund ist die in Deutschland so weitverbreitete Pauschalverurteilung nationaler Identität für viele Europäer einigermaßen befremdlich.“ Viele europäische und andere Nationen hätten sich als Schutzschild gegen den Aggressor und für die vielen Flüchtlinge erwiesen. Staaten und Nationen sind zudem keine handelnden Akteure, möchte ich hinzufügen. Deren Politik wird durch Menschen bestimmt. Chauvinismus und Fremdenfeindlichkeit sind keine Eigenschaften von Nationen, sondern von Menschen.

 

Problematisch, so Bröning weiter, erscheint die kritische Bewertung des Nationalstaats auch in Bezug auf die historischen Erfolge progressiver Politik. Es waren Nationalstaaten, in deren Rahmen demokratische Prinzipien, das Primat der Politik und der Wohlfahrtstaat erstritten wurden. Künftig dürfte progressive Politik nicht in der Überwindung, sondern in der Stärkung demokratischer Nationalstaaten liegen. Die Solidarität mit Flüchtlingen bedarf staatlicher Institutionen, die diese trägt. Private und nachbarschaftliche Hilfsangebote allein reichen nicht aus. Die Herausforderung der Migration nach Europa wird nur in einem koordinierten Handeln europäischer Nationen zu meistern sein. Von einer „Festung Europa“ und „menschenverachtender Abschottung“ zu sprechen, ist angesichts der Millionen aufgenommener Flüchtlinge abwegig. Deren Anerkennung als Bürger setzt ein weiteres Mal ein funktionierendes Staatswesen voraus.

 

Warum hängen Menschen so stark an ihrer Nation, warum werden immer mal wieder neue Staaten gegründet, die Slowakei beispielsweise oder jüngst Südsudan? Eine Antwort liefert die World Values Survey, einer der großen Untersuchungen menschlicher Überzeugungen: 86 Prozent der Befragten von Algerien bis Zimbabwe zeigen sich „sehr" oder „ziemlich stolz" auf die Zugehörigkeit zu ihrer Nation. Das setzt ein Fragezeichen hinter die Realisierbarkeit einer antinationalen politischen Strategie. Uneinigkeit von Partikularinteressen lassen sich nicht auf eine und nur eine rationale suprastaatliche Linie bringen. Schon das Heidelberger Programm der SPD aus dem Jahr 1925 forderte die „Vereinigten Staaten von Europa“, anerkannte aber im selben Atemzug das „Selbstbestimmungsrecht der Völker" und das „Recht der Minderheiten auf nationale Selbstverwaltung". Auch die „Vereinigten Staaten von Europa“ sehen keine Auflösung der Nationalstaaten vor, wohl aber Souveränitätseinschränkungen.

 

Nationalstaaten seien nach wie vor jene Einheiten, die Demokratie konkret gewährleisten können, betonen Ribi wie Bröning. Für sie (und ich stimme ihnen zu) liegt ein vernünftiger Weg zwischen einer utopischen Auflösung europäischer Nationen (erträumt vom Schriftsteller Robert Menasse, dem Theatermacher Milo Rau und der Politologin Ulrike Guérot) und der Anrufung der Nation als Vorwand für einen rücksichtslosen Nationalismus. Die Zukunft Europas liegt auf einem Mittelweg, wobei die Antworten in den einzelnen Politikfeldern unterschiedlich ausfallen können: Mehr Europa etwa in der Außen- und Sicherheitspolitik und bei Maßnahmen gegen den Klimawandel, und ein Mehr an nationalstaatlicher Verantwortung in Haushaltsfragen und der Migrationspolitik. Demokratisch gewählte nationale Parlamente müssen das Recht haben, einzelne Vertiefungsmaßnahmen wie beispielsweise die Aufnahme von Flüchtlingen zurückzuweisen, wenn es dafür keine nationale Mehrheit gibt. Es wäre ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Das wäre nichts Neues. Bislang schon gruppieren sich Staaten unterschiedlich in Europäische Freihandelsassoziation (Efta), Europäischen Union, Europäische Zollunion, europäischen Wirtschaftsraum, Schengen-Raum und Eurozone.

 

Faktisch wird die globale Ordnung nicht dort erschüttert, wo zu viel, sondern wo zu wenig Staatlichkeit zu Chaos führt. Wachsamkeit gegenüber den Gefahren eines übersteigerten Nationalismus bleibt natürlich angebracht. Doch die Auflösung der europäischen Staaten zugunsten einer Europäischen Vereinigung erhält derzeit keine Mehrheit, und der romantische anarchistische Traum von der Staatenlosigkeit ist erst recht keine Alternative. Rudolf Rockers Schlachtrufe „Befreiung der Wirtschaft vom Kapitalismus!“ und „Befreiung der Gesellschaft vom Staate!“ (Rocker 1937/1947, S. 731) wurden erfreulicherweise nicht umgesetzt. Eine „Befreiung“ von Nation und Staat wurde nach dem Zweiten Weltkrieg gar nicht erst versucht; sie ist ohnehin unmöglich. Jeder Staatenlose wird das bestätigen können.

 

Verwendete Literatur

15. Januar 2019

 

Stichworte: Regierende, Herrschende, deren Dummheit, Torheit, Unvernunft, Barbara Tuchman, lernen aus der Geschichte, mit Beispielen

 

„Die gesamte Geschichte, unabhängig von Zeit und Ort, durchzieht das Phänomen, dass Regierungen und Regierende eine Politik betreiben, die den eigenen Interessen zuwiderläuft.“ (S. 11) Mit diesem Satz beginnt das Buch Die Torheit der Regierenden (1984) der amerikanischen Historikerin Barbara Tuchman (1912–1989). Sie wurde berühmt durch originelle historische, zeitgeschichtliche Publikationen. Besonders bekannt wurde ihr Buch über den Beginn des Ersten Weltkriegs unter dem Titel August 1914 (1962). Aber auch die groß angelegte Studie über das Mittelalter im 14. Jahrhundert, betitelt Der ferne Spiegel (1978), wurde überall viel gelesen. Diese Autorin erhielt zweimal den renommierten Pulitzer-Preis in den USA.

 

Anhand von vier ausführlichen Fallgeschichten möchte sie in Die Torheit der Regierenden – um dieses Buch geht es hier (Gesamttext frei zugänglich unter http://www.irwish.de/PDF/Tuchman-Torheit_der_Regierenden.pdf) – die Frage beantworten, „Warum agieren Inhaber hohe Ämter so oft in einer Weise, die der Vernunft und dem aufgeklärten Eigeninteresse zuwiderläuft?“ Diese historischen Beispiele sind der Fall Trojas, das Erstarken der Reformation durch die Starrsinnigkeit der Päpste, die arrogante britische Politik, die zur Unabhängigkeit der nordamerikanischen Kolonie führte, und die Niederlage der USA im Vietnamkrieg.

 

„Töricht“ sei eine Politik dann, wenn es in der jeweiligen Zeit starke Gegenmeinungen gab, die vor den Gefahren warnten, ferner, wenn es praktikablere Handlungsalternativen gab, und drittens, wenn nicht nur ein Einzelner, sondern herrschende Gruppen kollektiv in die falsche Richtung rennen. Die von ihr herangezogenen Beispiele weisen allerdings nicht immer allen drei Kriterien auf. Des ferneren behauptet sie, dass die menschliche Gattung keine Vorkehrungen und Schutzmaßnahmen gegen das Vordringen der Torheit in die Regierung getroffen habe (S. 15). Aber hat sich über vielfältige Versuche hinweg nicht die Staatsform der repräsentativen Demokratie herausgebildet, die sich über die gesamte westliche Welt verbreitete?

 

Einen weiteren Einwand gegen ihre Eingangsthese bringt Tuchman selbst vor: Was sich einst als Torheit zeigte, erweist sich in der Folge als nicht unbedingt negativ. Ob die Reformation insgesamt ein positives oder negatives Ereignis der europäischen Geschichte war, wird sicherlich unterschiedlich beantwortet werden. Wie alles Menschliche zwischen den Menschen bewertet wird, so lassen sich auch Torheit und Sturheit jeweils aus der Sicht der einen oder anderen Partei verschieden bewerten. Finden die Amerikaner die Torheit der Engländer bedauerlich, die ihnen die Unabhängigkeit brachte? Wäre es für die Bevölkerung der beiden Länder besser gewesen, Großbritannien hätte durch geschicktes Verhandeln Nordamerika als Kolonie behalten?

 

Die Autorin ist historisch gut bewandert, und so bringt sie auch einige Beispiele segensreicher Herrscher mit weitreichend vernünftigen Entscheidungen. Es sind also keineswegs „die Regierenden“, die grundsätzlich dumm sind. Starke und tatkräftige Herrscher, wie die Grieche Solon, sind selten, aber es gibt sie. Ein Platz unter den Großen gebührt George Washington, Marc Aurel, Julius Caesar, Hadrian, der Deutsche Friedrich II., Königin Elisabeth I. von England oder Kaiserin Maria Theresia von Österreich – alles Menschen mit außerordentlichem Geschick und großer Klugheit. Manchmal stellen sich Entscheidungen der Herrschenden sogar als weise heraus, beispielsweise der weitgehende Verzicht der Alliierten auf Reparationen nach dem Sieg im Zweiten Weltkrieg oder die Zurückhaltung der Amerikaner bei der Besetzung Japans. Der ägyptische Präsident Sadat gab die fruchtlose Feindschaft gegenüber Israel auf und suchte ein konstruktives Verhältnis zu Israel. Warum dann Tuchmans einseitige Eingangsthese?

 

Dennoch formuliert sie: Torheit ist ein Kind der Macht (S. 42). Aber stimmt das? Torheit ist ein Teil menschlicher Potenzialität. Auf Entscheidungsebene, betont Tuchman, potenziert sie sich und wird gefährlich. Richtig ist wohl, dass Macht einen bestimmten Menschentyp anzieht, der freilich nicht nur negative Eigenschaften aufweist. Gestaltungswillen und Durchsetzungskraft gehören dazu, aber nicht selten auch Größenwahn und Selbstüberschätzung. Macht korrumpiert nicht zwangsläufig, aber die Gefahr liegt nahe.

 

Tuchman Beispiel, die Eroberung Trojas, zeugt eigentlich weniger von der Torheit der Trojaner, das vergiftete Geschenk der Griechen, das große Holzpferd, in die Stadt zu ziehen, sondern von den nicht enden wollenden Intrigen der Götter, die die Menschen gegeneinander aufhetzen und sich auch selbst immer wieder Steine in den Weg legen. Hier muss eher von der Niedertracht der Götter gesprochen werden. Die amerikanische Regierung machte in der Vietnam-Politik massive Fehler, aber die Vietcong waren um keinen Deut besser. Als sie gewonnen hatten, verkam ihre Herrschaft zu einer brutalen Tyrannei.

 

Sodann wären noch Situationen zu berücksichtigen, wo der Herrscher etwas Törichtes anstellt, was aber keine negative Folgen hat, weil irgendeine andere Entwicklung oder Entscheidung dies kompensiert. Oder aber ein kluger und weitsichtiger Herrscher dringt beim eigenen Volk nicht durch und wird als Feigling, Zögerer, Leisetreter und Schlappschwanz angesehen. Das Volk ist nicht selten so töricht, die Qualitäten seine Regierung nicht erkennen zu können.

 

Überhaupt sind einzelne törichte Entscheidungen selten, jedenfalls nicht in Demokratien mit einer Gewaltenteilung. Vielmehr befinden sich alle Beteiligten in einem meist schwer zu überschauendem Beziehungsgeflecht, dessen Einzelteile sich gegenseitig beeinflussen, oftmals in einem nicht vorhersehbaren Sinne. Ob der einzelne da klug oder dumm gehandelt hat, geht im Rauschen der Geschichte unter. Zudem sind Politiker, wie alle Sterblichen, zwischen die Pole Verantwortung und Zufall eingespannt. Sie sind niemals alleinige Akteure auf der Bühne. Allfällig auftretende Unzulänglichkeiten auf „Torheit“ zu reduzieren, geht an der Realität vorbei. Näher hätte es gelegen, von der Tragik der Regierenden und Herrschenden zu sprechen, die nicht selten in ein unentwirrbares Geflecht unübersichtlicher Zwänge eingebunden sind. Im Grunde genommen beschreibt Tuchman in ihren spannend zu lesenden Fallgeschichten genau das. Wie sie dann zu der allgemeinen, eingangs zitierten Schlussfolgerung kommt, bleibt einigermaßen unklar.

 

Tuchman stellt abschließend die Frage, wie sich ein Land vor der Dummheit in der Politik schützen kann, und ob es möglich ist, zum Regieren zu erziehen. Gibt es ein Erfolgsrezept gegen Korruption und Unfähigkeit? Plato zweifelte selbst daran, dass seine Idee vom „Philosophen auf dem Thron“ funktionieren wird. Er hoffte auf die disziplinierende Kraft guter Gesetze. Aber vielleicht sollte man vor allem die Wähler heranbilden, Integrität und Charakter zu erkennen und zu belohnen. Aber weil Torheit zum Menschsein gehört, so können wir nur weiterwursteln, wie in den vergangenen Jahrtausenden auch, was bedeutet, dass auch künftige Zeiten von Glanz und Niedergang, hochherzigen Unternehmungen und tiefen Schatten geprägt sein werden.

30. Dezember 2018

 

Stichworte: Volk, Wähler, Populismus, Ursachen, Globalisierung, Migration, Ökonomie, Kulturalismus, Universalismus, Liberalismus, Elite, Hass, Niedertracht

 

Was will das Volk, was will die Bevölkerung? Wer protestiert und mit welchen Argumenten? Lehnen sich die Armen auf, oder sind es die „Abstiegsbedrohten“? Der Politikwissenschaftler Philipp Manow legte Ende 2018 eine Streitschrift vor, mit der er den Wahlerfolg rechts- und linkspopulistische Parteien zu erklären sucht. (Philip Manow: „Die Politische Ökonomie des Populismus“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018)

 

Manow, geboren 1963, ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bremen. Er plädiert in Die politische Ökonomie des Populismus (November 2018) dafür, das Erstarken populistischer Parteien als eine Reaktion auf objektive materielle Probleme zu verstehen. Diese materiellen Probleme seien die Globalisierung und die Migration. Einerseits sollen die inländischen Arbeitsplätze erhalten bleiben, andererseits diese gegen Migranten geschützt werden. Nicht primär der Sozialstaat werde verteidigt, sondern der Arbeitsmarkt vor der Globalisierung. Dies gelte für die rechtspopulistischen Wähler in Osteuropa und in den angelsächsischen Ländern. In Südeuropa stelle sich die Lage etwas anders dar. Hier sei das Erstarken populistischer Parteien Ausdruck des Protests gegen den EU-Binnenmarkt und die Währungsunion, genauer gesagt gegen deren Politik der Sparsamkeit und Haushaltsdisziplin. Die populistischen Parteien in den jeweiligen Ländern würden also unterschiedliche Wählerpotenziale mit unterschiedlichen Programmen mobilisieren.

 

Nicht die Armen, Arbeitslosen und Prekären würden sich gegen neoliberale Politik wenden, es seien die Abstiegsbedrohten, die den status quo verteidigen. Dies ist die ökonomische Seite. Das kulturalistische Argument wendet sich gegen Überfremdung. Diese Wähler fühlen sich durch eine fremde Kultur unangenehm bedroht. In beiden Fällen ist der mehr oder weniger ungenau benannte universalistische Gesellschaftsliberalismus der Gegner, oftmals als „Elite“ bezeichnet. Das Hauptwählerpotenzial liegt vor allem unter Männern der unteren Mittelschicht.

 

Die empirischen Analysen in Manows Buch erlauben es nicht zu unterscheiden, ob die populistischen Wähler rechtsnationale „kulturelle“ Wertvorstellungen haben oder ob sie „ökonomisch“ einen gewohnt großzügigen Sozialstaat vor Migranten abhalten wollen. Hinzu kommen Polemik gegen Feminismus, Minderheitenrechte, Gender-Debatten, Furcht vor Kriminalität und Antiautoritarismus. Das macht es schwer, einen rationalen Kern zu erkennen, dem man mit rationalen Argumenten begegnen könnte. Die materiellen Bedingungen scheinen nicht immer eine Hauptrolle zu spielen. Die Schere zwischen Arm und Reich, die sich angeblich stetig vergrößert, scheint ein eher vorgeschobenes Argument zu sein.

 

Zeigt sich die Verunsicherung in einer steigenden Zahl von Depression- und Burn-out-Fällen? Und wenn ja, wie ist dieser Trend zu erklären angesichts eines Deutschlands, das wirtschaftlich prosperiert? Um Wohlstand, Arbeit und soziale Sicherheit musste man sich hierzulande selten weniger Gedanken machen als derzeit, betont Inge Klopfer (»Die Ohnmacht«, FAZ, 25. November 2018, S.28).

 

Der Psychoanalytiker und Sozialpsychologe Hans-Jürgen Wirth hat in einigen Aufsätzen die depressive Gemütslage direkt in Bezug zur Ohnmacht gesetzt, welche die Menschen im Laufe ihres Lebens immer wieder erfahren. (»Macht, Narzissmus und die Sehnsucht nach dem Führer«, Bundeszentrale für politische Bildung, 2. März 2007; »Zwei extreme Fälle von Narzissmus«, Cicero, 4. Juli 2016, über Brexit, David Cameron und Boris Johnson) Ohnmächtig zu sein, also nicht Herr der Lage, ist ein beunruhigendes Gefühl. Haben Teile der Bevölkerung verlernt, derartige Ohnmacht zu ertragen? Ohnmacht ist eine Urerfahrung des Menschen, sagt Wirth. Was also ist neu? Möglicherweise ein schwindendes Gefühl, sein eigenes Leben steuern zu können. Globalisierung und Migration greifen von außen ein, ohne dass man darum gebeten hätte. Darüber könnte doch eigentlich diskutiert werden.

 

Nie war der Mensch so sehr Herr über die Natur. Er hat einen bisher ungeahnten Reichtum geschaffen, der zum ersten Mal in der Geschichte die Möglichkeit eröffnet, die materiellen Bedürfnisse aller Menschen zu befriedigen. Zugleich scheint ihm diese Welt eine Riesenmaschine zu sein, die ihm Richtung und Tempo seines Lebens vorschreibt. Dieselbe Haltung der Ohnmacht hat er auch gegenüber dem sozialen und politischen Apparat. „Ich kann nichts beeinflussen, nichts in Bewegung setzen, durch meinen Willen nicht erreichen, dass irgend etwas in der Außenwelt oder in mir selbst sich ändert, ich werde nicht ernst genommen, bin für andere Menschen Luft.“ So beschrieb es der deutsch-amerikanische Philosoph, Soziologe und Psychoanalytiker Erich Fromm in seinem Essay "Zum Gefühl der Ohnmacht", der 1937 in der "Zeitschrift für Sozialforschung" erschien.

 

Ständiger Begleiter der Ohnmacht ist die Angst. Die Angst nährt wiederum das Ohnmachtsgefühl. Wut stellt sich ein, wenn man mit Menschen zusammentrifft, denen gegenüber man entweder seine Überlegenheit nicht durchsetzen kann, oder die das Ohnmachtsgefühl nicht nachvollziehen können. Viele flüchten in Fantasien von Größe, in anderen Fällen werden Ohnmachtsgefühle nicht sozialverträglich kompensiert, sondern durch „faktische Macht im kleinen“ (E. Fromm) ersetzt. Dann lässt man seine Wut an anderen aus.

 

Wut, Hass und Niedertracht sind die Vehikel, sich über den Gegner zu erheben und ihm jene Angst einzuflößen, unter der man selber leidet. Der Gegner muss verkleinert werden, um sich selbst größer fühlen zu können. Je kleiner das Selbstbewusstsein und je geringer die Selbststeuerungsfähigkeit, desto größer die Niedertracht gegen den realen und vermeintlichen politischen Gegner. Was man selbst schmerzhaft an (realer oder vermeintlicher) Demütigung und Ungerechtigkeit erfahren hat, lässt man nun andere spüren.

 

Die Reaktionsmuster sind dabei unterschiedlich. Sozialpsychologe Wirth nennt auf der Negativseite die Aggression gegen andere, damit diese die Ohnmacht spüren, die man selbst so fürchtet. Wut entlädt sich oft in Hassmails, Fake news, Shitstorms, Pegida, Verschwörungshypothesen, Sympathie für autoritäre Lösungen und im Wählen der AfD. So hat sich die Parteienlandschaft auch in Deutschland stark verändert.

 

Doch es gebe auch positive Mechanismen wie den Beginn neuer Projekte oder gar den Zusammenschluss mit anderen, um so seine Lebensumwelt zu verbessern. Derartige wohlmeinende Initiativen versanden allerdings schnell wieder. Die Occupy-Bewegung etwa, die sich nach der Finanzkrise von 2008 formierte, war der gemeinschaftliche Versuch der politischen Einflussnahme, nachdem hochbezahlte Banker die Finanzmärkte fast zum Zusammenbruch brachten und damit die Weltwirtschaft in eine Krise stürzten. Doch Occupy verschwand schnell wieder in der Versenkung; die Bewegung hatte kein handhabbares Programm hervorbringen können.

 

Ein dritter Weg, den Wirth vorschlägt, dürfte nicht gangbar sein (oder doch nur für wenige): wieder zu lernen, Ohnmachtsgefühle zu ertragen, ohne in Aktionismus zu flüchten, weil die Ohnmachtserfahrung nun einmal existentieller Bestandteil des Menschseins sei.

 

Für die Entstehung des Ohnmachtgefühls trifft man auf dieselben Schwierigkeiten, die immer vorhanden sind, wenn man Entstehungsbedingungen für einen seelischen Mechanismus angeben will. Es liegt niemals eine einfache Bedingung vor, die man als alleinige Ursache des in Frage stehenden Mechanismus bezeichnen kann. Man muss vielmehr immer die gesamte Konstellation der äußeren Umstände, unter denen ein Mensch oder eine Gruppe lebt, und die komplizierte Dynamik sowohl seiner Charakterstruktur als auch die Struktur der Gruppe kennen. Die Ursachen liegen zudem verschleiert unter einer Decke von Rationalisierungen, Abwehrmechanismen und Reaktionsbildungen. Zudem müssen wir erwarten, dass ein Gefühl wie das der Ohnmacht nicht erst in späteren Lebensjahren entsteht, sondern dass Erlebnisse in der Kindheit und Jugend für seine Entstehung mitverantwortlich gemacht werden müssen. Dies wiederum bedeutet, dass Menschen in unterschiedlichem Umfange für beispielsweise Ohnmachtsgefühle in ihrem Erwachsenenleben empfänglich sind, während andere anderes erlebt haben oder anders darauf reagieren.

 

20. Mai 2018

 

Stichworte: Michael J. Sandel, Liberalismus, Gefährung, Elite, wachsende Ungleichheit, Globalisierung, Einkommensverteilung, Lebensstandard, schlechtreden, Populismus, Chancengleichheit, Korruption, Pegida, AfD, Konsumismus, Leistungsbereitschaft, bedingungsloses Grundeinkommen, Ängste der Rechtspopulisten

 

Der amerikanische Philosoph Michael J. Sandel hat im „Spiegel“ (Nr. 21 vom 19. Mai 2018, S. 118ff.) ein Interview gegeben über die Gefährdung des Liberalismus in der westlichen Welt. Ich habe mir dieses Interview sorgfältig durchgelesen und fand heraus, dass ich mit der Mehrzahl seiner Aussagen nicht einverstanden sein kann.

 

Auch Sandel geht, wie derzeit viele, von einer wachsenden Ungleichheit im Zuge der Globalisierung aus. Er bezieht sich zuvörderst auf die USA. Dort mag die Rhetorik der Chancengleichheit „leeres Geschwätz“ sein. Seine Aussage, dass von dem ärmsten Fünftel der Einkommensskala nur 4 % von ihnen den Aufstieg ins oberste Fünftel schaffen, mag sogar richtig sein. Aber was sagt es aus? Ist seine Aussage nicht genau jenes „Geschwätz“, von dem er spricht?

 

Zu beklagen, dass es nur 4 % schaffen, impliziert, dass es mehr schaffen müssten. Angenommen, 100 % des untersten Fünftels schaffen es in das oberste. Dann ist das unterste Fünftel leer. Da aber 100 Prozent der Gesamtheit ausgefüllt werden müssen, rutscht das zweitunterste Fünftel ins unterste Fünftel, allerdings auf einem höheren Niveau. Die Statistik ist wiederhergestellt. Mit anderen Worten, die Ungleichheit bleibt, selbst wenn alle es bis ins oberste Fünftel schaffen. Würde nämlich das oberste Fünftel differenziert, geschieht dies auf einem sehr hohen Niveau. Man darf annehmen, dass dann dennoch das unterste Fünftel des obersten Fünftels sich beklagt, dass sie nicht zum obersten Fünftel des obersten Fünftels gehören. Sandels Grundaussage führt in einen statistischen Unsinn.

 

Es ist nicht einzusehen, warum Sandel nur das unterste und das oberste Fünftel betrachtet. Sehr viel mehr als nur 4 % steigen von unten in die Mittelschicht auf. Hier liegt der wahre Wanderungsgewinn. Und wer in der Mittelschicht angekommen ist, steigt von dort nur selten wieder ab. D. h., der Lebensstandard der Gesamtbevölkerung steigt seit Jahrzehnten tendenziell nach oben. Die Generation der Babyboomer, die heute Mitte 50 ist und viele Schaltstellen der Gesellschaft besetzt, hatte es mit einer relativ durchlässigen Gesellschaft zu tun.

 

Ob die fortschrittliche Politik „gescheitert“ ist, wie Sandel behauptet, wage ich zu bezweifeln. Wohl noch nie in der gesamten Geschichte der Menschheit ging es dieser so gut. Innerhalb von drei Jahrzehnten sind Millionen von Menschen aus Armut aufgestiegen in einen bescheidenen Wohlstand, vor allem in China. (http://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/globalisierung/52680/armut)

 

Dies wird in Deutschland und anderswo schlicht ignoriert. Liegt das an Unbescheidenheit, an Ideologie, an von welcher Seite auch immer genährten Illusionen? Der Populismus von links wie von rechts ist unter anderem dadurch definiert, dass er mit Illusionen und falschen Voraussetzungen arbeitet. Hauptelement ist es, die Gegenwart schlechtzureden, um sich selbst aus Ausweg zu präsentieren, der von allen Fachleuten in der Regel als unrealistisch eingeschätzt wird. Wenn, nach Sandel, der Liberalismus in der Krise ist, dann auch der Populismus, und zwar immer schon. Der Populismus kann nur enttäuschen.

 

Ich sehe deshalb auch keine existenzielle Krise der liberalen Demokratie. Gerade die liberale Demokratie garantiert – mehr oder weniger vollkommen –, dass auf der politischen Ebene eine Chancengleichheit besteht, die es in diesem Umfange in keiner anderen Regierungsform gibt. Neben der politischen Ebene gibt es weitere Ebenen, die nicht so vollständig kontrolliert und unter Beobachtung stehen. Dass sich dort die Reichen ihren Einfluss sichern, kann eigentlich nicht verwundern.

 

Es mag Fälle von gekaufter Politik geben, dies aber als allgemeinen Fall darzustellen, ist zumindest fragwürdig. In Deutschland ist kein derartiger größerer Fall bekannt. Die Tatsache, dass Sandel offenbar mehr über die USA als über Europa spricht, macht das gesamte Interview weniger wertvoll. Er nimmt Korruption als gegeben, als einen Normalzustand. Das ist sie aber nicht, jedenfalls nicht in den westlichen Ländern. Gerade in den USA stehen Politiker unter schärfster medialer Beobachtung. Von wem oder was spricht Sandel also? Statt Analysen offeriert Sandel eher abgedroschene Vorteilen gegenüber Politik. Er nimmt die Anwürfe der Populisten gegen die etablierte Politik als eine Tatsache und hinterfragt sie nicht.

 

Die nächste unbeantwortete Frage ist die, warum dieser Populismus gerade jetzt im Wachsen begriffen ist. Aber stimmt das überhaupt? Das Gefühl, nichts zu sagen zu haben, wurde schon vor Jahrhundeten artikuliert. Ist die „soziale Anerkennung“ für die unteren sozialen Schichten in den vergangenen Jahren oder Jahrzehnten tatsächlich gesunken? Oder interessierte sich die hohe Politik in Frankreich schon seit jeher nicht für die maghrebinischen Einwanderer? In den USA war und ist Einwanderung ein heißes politisches Eisen. Hillary Clinton mag auch verloren haben, gerade weil sie sich für die mexikanischen Einwanderer stark gemacht hat. In dem Bestseller „Ameríca“ hatte T.C.Boyle 2006 das Schicksal mexikanischer Einwanderer thematisiert.

 

Die Pegida- und AfD-Bewegten sind keine „Nazis“, was linke Gegendemonstranten gerne skandieren. Sandel fordert, das ist eine interessante Überlegung, auch den rechtspopulistischen Protestbewegungen zuzugestehen, dass sie Gründe für ihren Protest haben. Gegen den Zuzug weiterer Migranten zu sein, insbesondere den unkontrollierten Zuzug, bedeutet nicht, Rassist und Ausländerfeind zu sein. Es reicht nicht, da stimme ich Sandel zu, es bei der reflexhaften Verurteilung von Rechtspopulisten zu belassen.

 

Nun wäre es interessant zu erfahren, welchen Anteil Sandel den etablierten und liberalen Parteien bei der Erosion der Demokratie zumisst. Leider erfährt man darüber nichts. Der Konsumismus ist keine Erscheinung der letzten Jahre oder Jahrzehnte. Er wurde schon Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre vehement kritisiert. Konsumismus wird von allen akzeptiert, selbst von den Grünen. Gleichzeitig hat das bürgerliche Engagement, auf welcher Ebene auch immer, nicht abgenommen.

 

Es herrscht allgemeiner Konsens, dass beruflicher, wirtschaftlicher und sozialer Aufstieg im Wesentlichen auf eigener Leistungsbereitschaft beruht. Es ist eine allgemein menschliche Schwäche, den Erfolg auf eigenes Können, den Misserfolg aber auf ungünstige Umstände zurückzuführen. Diese kognitive Verzerrung hat nichts mit einer bestimmten Wirtschaftsform zu tun, sondern ist eine verbreitete Denkgewohnheit. Es ist doch nicht zu leugnen, dass Abstieg oder fehlender Aufstieg zu einem nicht unerheblichen Teil auf persönlichem Unvermögen beruht – neben all’ den unkalkulierbaren Zufällen. Es herrscht zumindest bei uns ein allgemeines Tabu, den Hartz-IV-Empfängern auf den Zahn zu fühlen: „Warum finden Sie keine Arbeit?“ Weil dann nämlich der persönliche Anteil zutage treten würde. „Bedingungsloses Grundeinkommen“, „Lebensleistungsrente“ und zusätzliche Programme für Langzeitarbeitslose sind einige Folgen dieses Tabus.

 

Wie soll, was Sandel fordert, die Würde der Arbeit wiederhergestellt werden? Muss es das überhaupt? Es ist nicht ersichtlich, warum Digitalisierung und künstliche Intelligenz diese Würde abschaffen. Die Arbeitslosenzahlen in den USA wie in Deutschland sinken seit ein paar Jahren auf historische Tiefstände. Noch deutet sich nicht jenes Heer von Arbeitslosen an, die die moderne Entwicklung angeblich hervorbringen wird. Richtig ist, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen einen Bedeutungsverlust nicht wettmachen kann. Vielmehr ist anzunehmen, dass eine anstrengungslose staatliche Alimentierung einen Großteil der Bezieher in die Bedeutungslosigkeit stoßen wird. Die Anerkennung in und durch Arbeit wird ihnen genommen, und damit ihre Würde. Es ist also gerade die Ausweitung der Wohltätigkeit des Staates, die jenen Bedeutungsverlust von Arbeit hervorruft, den die Kritiker des Kapitalismus durch Digitalisierung und künstliche Intelligenz kommen sehen.

 

Zustimmend lese ich Sandel, dass in Deutschland die Flüchtlings- mit der Asyl- und der Migrationsfrage heillos durcheinandergebracht wird. Dieser Prozess wird vor allem von den Grünen und Linken und der linken Sozialdemokratie betrieben, um moralischen Druck aufzubauen, Zuwandererzahlen in unbeschränkter Höhe durchzusetzen. Am 15. Juni 2018 hat der neue Generalsekretär der Linkspartei, Jörg Schindler, noch einmal bekräftigt, dass seine Partei für Migranten keinerlei Begrenzung wünscht. Jeder der will, könne kommen. Es ist mir ein Rätsel, warum die Merkel-Partei CDU nach dem Flüchtlingsdrama vom Spätsommer 2015 in den Umfragewerten absackte, und nicht die Werte von Grünen und Linken. Inzwischen haben CDU und CSU zaghaft begonnen, gegenzusteuern, während Grüne, Linke und SPD weiterhin schnelle Asylverfahren und den Rücktransport von abgelehnten Asylbewerbern systematisch torpedieren. Der Zulauf zu Pegida und AfD ist direkte Konsequenz davon. Den Migrantenzustrom keinesfalls zu begrenzen, wird von einem hohen moralischen Ross herunter vorgetragen.

 

Sandel plädiert für eine „Kultur des Zuhörens“. Man kann diesen Satz so interpretieren, dass er dafür eintritt, auch den Pegida- und AfD-Unterstützern zuzuhören. Ihre Argumente sollen nicht ausgeblendet werden. Aber was ist mit ihrem Hass und ihren Pöbeleien? Soll man dem auch interessiert zuhören? Sandel unterscheidet nicht zwischen Inhalt und Form. Man mag zustimmen, was Sandel über die Vermeidung von Kontakt und Konflikt und über falsche Toleranz sagt. Aber was bedeutet das für Pegida und AfD? Sie kennen und wollen keine pluralistische Demokratie als offenen Lernprozess und ergebnisoffenen Diskussionen.

 

Wenn es eine Wertrichtung gibt, die Gleichberechtigung fordert, so der Liberalismus. Es gibt viele Gelegenheiten, sich gleichberechtigt zu begegnen. In Deutschland gibt es starke Integrationsbewegungen. Wenn Sandel von Segregation im sozialen Leben spricht, meint er wohl eher die USA. Unklar bleibt, was er unter einer staatsbürgerlichen Infrastruktur versteht. Und was Nächstenliebe und bürgerliche Tugenden angeht, so braucht sich Deutschland mit seiner breiten Vereinsbewegung und seinem sozialen zivilen Engagement nicht zu verstecken.

 

Sandel bleibt die Antwort schuldig, wie mit Rechtspopulisten zu sprechen sei. Ihnen zuzuhören würde bedeuten, ihre Argumente ernst zu nehmen. Entkleidet man diese Argumente ihrer politischen Propaganda und ihres Hasses, so bleibt die Angst übrig, mit zu viel Migranten als Nation überfordert zu sein. Dies auszusprechen kommt großen Teilen der Sozialdemokratie sowie den Linken und Grünen bis heute nicht über die Lippen (von einigen Ausnahmen wie Palmer, Kretschmann und Wagenknecht abgesehen). Die Ängste der Rechtspopulisten ernst zu nehmen bedeutet, den Strom der Wirtschaftsflüchtlinge aus den Nicht-EU-Ländern konsequent zu stoppen, Asylanträge innerhalb kurzer Zeit zu bescheiden sowie abgelehnte Asylbewerber konsequent zurückzuschicken. Ich bin mir keineswegs sicher, ob Sandel das meint.

 

Mit einem Wort, Sandels Analyse zeigt große Lücken. Die Konsequenzen seiner Forderung zuzuhören, scheinen ihm nicht bewusst. Es bleibt bei einer undifferenzierten Kritik an einer Elite, die er selbst angehört. Das ganze ist inkonsequent und unbefriedigend. Das Interview zeigt zudem, dass der Liberalismus (in aller Pauschalität gesagt), keine Antworten auf die Asyl- und Migrantenfrage hat. Jeder steuernde Eingriff des Staates widerspricht seiner Freiheitsdoktrin. Damit provozierte er eine rechtspopulistische Reaktion, die ihn selbst untergräbt.

Priv.-Doz. Dr. Gerald Mackenthun

Dipl.-Politologe

Dipl.-Psychologe

Dr.phil.

Privat-Dozent für Klinische Psychologie

 

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© Gerald Mackenthun, Berlin, Februar 2011

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