Autor und Psychologe Gerald Mackenthun (Berlin)
Autor und Psychologe Gerald Mackenthun (Berlin)

Der Fall Gustl Mollath

Kommentar zur öffentlichen Diskussion um den Fall Mollath

Folgt man dem dominanten Meinungsbild an den Stammtischen des Internets auch zum Fall Mollath, dann sind alle Politiker und andere Entscheidungsträger Dummköpfe, Feiglinge, Verbrecher und käufliche Opportunisten. Mollaths Unterstützer verbreiten Verschwörungsszenarien, setzen pauschal die deutsche Justiz, die Psychiatrie und Politiker herab und stellen Behauptungen auf, die sie nicht belegen können. „Sie erwecken den Eindruck“, schrieb Patrick Guyton am 15. Dezember 2012 im Berliner Tagesspiegel, „als müsse man einen gemeingefährlichen, von Wahnvorstellungen beherrschten Zwangseingewiesenen mehr glauben als der Justiz.“ Es werde immer schwieriger zu unterscheiden, welche Kritik an der bayerischen Politik und Psychiatrie berechtigt ist und welche nicht. Wahnsinn und Wirklichkeit geraten durcheinander.

 

Die überbordenden Diskussionen in Internet-Foren sind gekennzeichnet von Beleidigungen, Polemik, Häme, Drohungen und Verschwörungsbehauptungen. Unbewiesene Behauptungen Mollaths oder seiner Unterstützer werden ungeprüft weitergereicht. Der Mann wird von den Unterstützern instrumentalisiert, als ob sie größtmöglichen Schaden und Verwirrung stiften möchten.

 

Erstaunlich daran ist unter anderem, dass diese Menschen glauben, sich anderen zumuten zu dürfen. In ihrer Logik ist die Selbstdarstellung ein voller Erfolg. Sie kennen keine Scham und wissen nichts davon, dass sie mit ihren Invektiven andere beschämen könnten. Es existieren zwei völlig unterschiedliche Kulturen nebeneinander her. Um die Medienberichterstattung rotiert ein abgehängtes Diskussionspräkariat um irrwitzige Fragen. Es geht um die Form der Kritik: hier die derb-rüpeligen Wutbürger gegen ernsthaft-zurückhaltende Entscheidungsträger, hier ein vernunft- und empathieloser Exhibitionismus gegen einen fast altmodisch anmutenden Begriff von Anstand, Vertrauen und Verlässlichkeit. Der mag noch in einigen Teilwelten zählen mag, nur nicht an den Stammtischen und im Internet.

 

Was, wenn die Rüpelhaftigkeit ernst genommen würde? Haben die Wutbürger eine Vorstellung davon, was sie anrichten können? Sie stellen ihre unkontrollierten Emotionen aus: Wut, Verachtung, Hass, Unverständnis, Unvernunft, seelische und intellektuelle Blindheit. Alles wird sofort öffentlich gemacht. Aber wollt ihr ein Kritikverbot wie in den islamischen Diktaturen? lautet die Gegenfrage. Das Vorgehen des Internet-Pöbels gleicht einem Experiment. Wie viel Häme, Niedertracht, Verfolgungswahn, hält unsere Demokratie aus?

 

Kritisiert werden scheinbar die Mächtigen und die, die was zu sagen haben. Es handelt sich meist um Menschen, die Verantwortung tragen. Meist wurden sie demokratisch gewählt, meist haben sie ihr Können in jahrelangen Ausbildungen erworben. Ihre Demontage ist eine Demontage der Demokratie und der Expertise. Wie viel Häme und Verachtung verträgt eine Demokratie?

 

Was fehlt, ist Empathie. Aus wüsten Diskussionen im Netz gehen selten rationale Diskurse oder zielführende Debatten hervor. Oft werden sie aufgrund allgemeiner Ermüdung ergebnislos abgebrochen, wie beispielsweise über die aufgeregte Diskussion um das Urheberrecht. Das hat sich bis heute kann keine vernünftige Idee entwickelt, wie in Zukunft mit schöpferischer Arbeit Geld verdient und zugleich die Freiheit des Internets sichergestellt werden kann. Das Internet ist zu groß, als dass konkurrierende Positionen ernsthaft abgeglichen werden könnten. Den meisten reicht es ja, zu pöbeln und den „Like"-Button zu drücken. So kann sich natürlich keine Gesellschaft verständigen.

 

Mit dem Humanismus und dem Christentum der Bergpredigt ist eine Aufklärung zur Empathie und Toleranz verbunden, die versucht, solche Exzesse einzudämmen, indem sie die Interessen und Motive der anderen Seite mit in Betracht zieht. Mit den unreflektierten und unzensierten Internetforen (aber nicht nur da) wird dieses Anliegen immer trüber. Die politische Radikalisierung gehört zu den gefährlichsten Folgen.

 

Warum aber hält dann fast die gesamte politische und juristische Elite an einem Verhalten fest, das ihr nur Hass und Hohn einbringt, aber kaum öffentliche Anerkennung? Weil es vernünftig ist, den bewährten politischen und juristischen Institutionen zu vertrauen, bei aller Kritik im Kleinen. Sie lassen sich nicht vom Volkszorn hinwegtragen und sehen glücklicherweise keinen Anlass, die Unabhängigkeit der Justiz in Frage zu stellen. 

Die Diskussion um Mollath aus psychologischer Sicht

Wie kann man sich erklären, dass von Mollath ausgehend sich in einigen Medien und in den Internet-Foren eine verzerrte Wahrnehmung des Falles breitmacht? Dazu ein Erklärungsversuch aus psychologischer Sicht.

 

1.) Mollath-Unterstützer glauben, Recht zu haben. Das ist nicht weiter problematisch. Schwierig wird es, wenn Andersdenkenden dieses Recht nicht zugestanden wird: Andersdenkende haben prinzipiell keine Ahnung. Sie haben die vielfältigen Beweise für Mollaths Unschuld nicht zur Kenntnis genommen. Wenn sie dies getan hätten, läge seine Unschuld klar zutage. Andersdenkende müssen gekauft sein – von wem, wird nicht ganz klar. Von der Justiz? Von Ministerin Merk? Von der CSU? Sie müssen gekauft worden sein, anders kann man sich die Ignoranz der Andersdenkenden nicht erklären. Die berufliche Expertise Andersdenkender wird in Zweifel gezogen beziehungsweise grundsätzlich in Abrede gestellt. Psychiater werden als „Psychiater" tituliert, als ob sie möglicherweise keine wären und ihr Diplom in der Lotterie gewonnen hätten (wie Gert Postel). 

 

2.) Die Reaktionen der Mollath-Fans gleichen Projektionen: Eigene Fehler und Unzulänglichkeiten werden dem Anderen zugeschoben und unterstellt. Eine Projektion ist ein seelischer Mechanismen zur Abwehr von seelisch Unerträglichem (aus der Sicht der Projizierenden). Mollath-Fans halten es für eine unerträgliche Vorstellung, dass Mollath eventuell zu Recht in der Psychiatrie einsitzt, dass es eventuell nur marginale oder gar keine „Schwarzgeldschiebereien" gab, dass die Mollaths in einem unerfreulichen Ehekrieg verstrickt waren, den die Öffentlichkeit aber grundsätzlich nichts angeht, dass die vier psychiatrischen Gutachten im Großen und Ganzen Mollaths psychischen Zustand korrekt abbildeten und dass Ministerin Merk zu keinem Zeitpunkt Anlass hatte, in den Fall einzugreifen, was ihr im Übrigen auch verboten war und ist.

 

3.) Sozialpsychologisch handelt es sich beim Meinungskampf um Mollath um eine Massenhysterie, die antisoziale Normen entwickelt, deren Sog sich einige nicht entziehen können. Die Aufgeregten heizen sich mit ihren Unterstellungen und Angriffen gegenseitig auf. Minimale Unterschiede reichen aus, um eine Eigengruppe (im Internet könnte man es "Schwarm" nennen) in Stellung zubringen gegen eine Fremdgruppe, die als feindlich aufgebaut wird.  Die Eigengruppe wird so lange weitermachen, bis die eigenen Leitfiguren aussteigen (z.B. die Journalisten von Süddeutscher Zeitung und Report Mainz) oder der Gegner aufgibt.

 

4.) Gruppennormen werden von zwei psychischen Wünschen aufrechterhalten: Es ist elementar wichtig dazuzugehören, und es besteht zugleich das Bestreben, die Welt so realistisch als möglich zu erfassen. Das Bedürfnis, geliebt zu werden, ist sozialpsychologisch gesehen das dominantere. Dann beginnt die Verzerrung der Welt mit der Bereitschaft, den Gegner auszugrenzen, zu schädigen oder zu vernichten. Abweichler werden unter Druck gesetzt, die Gruppennorm zu erfüllen. Ihnen droht der Ausschluss.  

 

5.) Gemeinsames Merkmal der unter Gruppenzwang Stehenden ist das Unvermögen, sich in das Gegenüber oder den Anderen hineinzuversetzen, seine Intentionen und Überlegungen zumindest ansatzweise nachzuvollziehen und ihm das Recht auf eigene Überlegungen und Meinungen zuzugestehen. Die Mollath-Fans streiten dem Andersdenkendem dieses Recht grundsätzlich ab. Ein Gemeinwesen kann nicht existieren, wenn den Intentionen des Mitmenschen grundsätzlich misstraut wird. Mollath-Unterstützer mögen schlechte Erfahrung mit der Psychiatrie, der Politik oder der Justiz gemacht haben; ihr Misstrauen ist aber grundsätzlich, geradezu nihilistisch (nichts mehr glaubend und anerkennend) und nicht zu heilen. Mollaths Person und seine Unterstützer verschmelzen in einer Realitätsverzerrung, die mit rationalen Argumenten nicht zu beseitigen ist. 

 

6.) Mollaths Problem besteht ja, wie bei allen geistig Gestörten, in der verzerrten Wahrnehmung dessen, was in einem allgemeinen Konsens als Wirklichkeit bezeichnet werden könnte. Er und ein Großteil seiner Anhänger und Unterstützer treffen sich in einer existenziellen Unsicherheit bezüglich der Wirklichkeit. Das macht die Diskussion mit ihnen prinzipiell unmöglich.

 

7.) Mollath-Fans und Verschwörungsideologen führt die Sehnsucht nach Ordnung und Gewissheit zusammen, produziert aber nur Verwirrung. Sie nehmen eine schwierige Lage zum Anlass, noch mehr Unheil anzurichten. Sie eint das Bedürfnis nach dem großen staatlichen Betrug. Der rationale Staat erfüllt ihr Bedürfnis nicht. Sie sind enttäuscht und fühlen sich machtlos. Sie suchen einen Platz, wo sie sich im Kreise Gleichgesinnter aufgehoben fühlen und sie sich gegenseitig bestätigen können: Wir haben Recht.

 

8.) Ihre Angst und Einsamkeit konvertieren sie in Destruktion. Nihilismus ist die ihnen noch einzig mögliche Art, in der Welt, wie sie ihnen erscheint, zu überleben. Es ist eine reduzierte Art zu leben, und sie zerstört tendenziell den letzten Rest an Gemeinsamkeit, die sie mit der Welt verbindet. Doch die nach außen projizierten aggressiven Fantasien schüren unbewusst Verfolgungs- und Bestrafungsängste, die mit abermals verstärkter Abwehr in Schach gehalten werden müssen. 

 

9.) Das so wütend Bekämpfte ist - psychoanalytisch gesprochen - der bedrohliche Fremde. An kleinen Kindern ist die neugierig-ängstliche Ambivalenz gegenüber Fremden beobachtbar. Inwieweit Ambivalenz gegenüber fremden Anderen im Erwachsenenalter akzeptiert werden kann, hängt davon ab, ob es gelingt, die nach außen verlagerten, verpönten Anteile als eigene zu akzeptieren und ins Ich zu integrieren. Bei ungünstiger biographischer Entwicklung bleiben paranoid-schizoide Spaltungen, Projektionen und Verleugnungen als Angstabwehrmechanismen auch gegenüber Fremden dominant. Erst das Verlassen der paranoid-schizoiden Position bildet die Voraussetzung für eine angemessene Bewältigung innerer Konflikte und die Akzeptanz von Ambivalenzen und für die Entstehung altruistischer Fähigkeiten.  

 

10.) Eine Haltung zu dem Fall Mollath, die man gegebenenfalls als gesund bezeichnen könnte, würde sich in einer sachlichen Betrachtung und Diskussion des Für und Wider ohne persönliche Angriffe auf den Mitdiskutanten ausdrücken. Gefordert sind Takt und guter Geschmack. Takt anerkennt die Integrität des Anderen. Der gute Geschmack ist unter anderem die Fähigkeit, Übertreibungen entgegenzuwirken. Von Vorteil wären die Fähigkeit zur Relativierung des eigenen kulturellen Bezugssystems und die Bereitschaft, Ambivalenzen und zwischenmenschliche Irritationen zu ertragen und in den Dienst der Gemeinschaft bzw. Gesellschaft zu stellen.

Priv.-Doz. Dr. Gerald Mackenthun

Dipl.-Politologe

Dipl.-Psychologe

Dr.phil.

Privat-Dozent für Klinische Psychologie

 

Email gerald.mackenthun@gmail.com

 

Büro 030/8103 5899

0171/ 624 7155

 

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© Gerald Mackenthun, Berlin, Februar 2011

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